Die Anrede männlicher Chirurgen mit dem Titel „Mr.“ im Vereinigten Königreich ist eine bemerkenswerte Tradition, die sich tief in die Geschichte der Medizin dort eingewurzelt hat. Anders als in vielen anderen Ländern, in denen Ärzte und Chirurgen gleichermaßen als „Dr.“ tituliert werden, verweist das britische System auf eine ursprüngliche Unterscheidung, die auf die Entwicklung der medizinischen Ausbildung und des Berufsstands zurückgeht. Das Verständnis dieser Besonderheit erfordert einen Blick zurück, der bis zum 18.
Jahrhundert reicht und die Entwicklung medizinischer Qualifikationen sowie die gesellschaftliche Stellung von Ärzten und Chirurgen beleuchtet. Im 18. Jahrhundert hatten Ärzte, die damals ausschließlich als „Physicians“ bezeichnet wurden, meist ein Universitätsstudium absolviert und den akademischen Grad des Doctor of Medicine (MD) erworben. Diese Qualifikation war Voraussetzung, um den Titel „Dr.“ zu führen und damit als Arzt anerkannt zu werden.
Hierbei handelte es sich um akademisch ausgebildete Fachleute, die eher die inneren Krankheiten diagnostizierten und mit Arzneimitteln behandelten. Die eigentliche Chirurgie war hingegen häufig in den Händen von Handwerkern und Barbiersurgeons, die in der Regel keine formale medizinische Ausbildung genossen und somit auch keinen universitären Grad besaßen. Deshalb wurden Chirurgen damals mit dem Titel „Mr.“ angesprochen, da sie keine Ärzte im akademischen Sinn waren. Mit der Gründung des Royal College of Surgeons im Jahr 1800 begann ein Wandel.
Chirurgen machten sich daran, sich durch Prüfungen und formale Qualifikationen wie Membership of the Royal College of Surgeons (MRCS) einen offiziellen Status zu erarbeiten. Dennoch blieb die Anrede „Mr.“ erhalten und wandelte sich im Laufe der Zeit von einer Bezeichnung niedrigerer Stellung zu einer Art Ehrenabzeichen. Dies war auch ein Ausdruck des Stolzes innerhalb der Chirurgen-Gemeinschaft, die sich von den Ärzten abgrenzen wollte. Die Chirurgen hatten sich über die Jahrzehnte hinweg ein eigenes Selbstverständnis erarbeitet, das sie als gleichwertig oder sogar überlegen gegenüber den Medizinern verstand — insbesondere da sie operative Eingriffe ausführten, was als besonders anspruchsvoll galt.
Im 19. Jahrhundert entstand zudem eine weitere soziale Schicht innerhalb der medizinischen Berufe, nämlich die der Allgemeinmediziner oder „General Practitioners“. Viele von ihnen hielten die duale Qualifikation MRCS sowie eine Lizenz der Apothekervereinigung (LSA), wodurch sie als medizinische Allrounder galten. Für die sogenannten „reinen Chirurgen“, die sich ausschließlich auf chirurgische Eingriffe spezialisierten und weder Apothekertätigkeiten noch Geburtsmedizin ausübten, stellte der Fellow of the Royal College of Surgeons (FRCS) die angesehene höchste Qualifikation dar. Die „Mister“-Anrede wurde zunehmend zum charakteristischen Kennzeichen dieses exklusiven Berufsstandes.
Die Abgrenzung zwischen Ärzten (Dr.) und Chirurgen (Mr.) war nicht nur eine Frage der Qualifikation, sondern auch ein Zeichen gesellschaftlicher Hierarchien. Die Ärzte galten als Herren mit akademischem Bildungsabschluss und waren oft die leitenden Diagnose- und Behandlerfiguren in Krankenhäusern. Chirurgen hatten anfangs eher praktische Aufgaben ausgeübt, aber mit dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und Technik stieg ihr Ansehen in rasantem Tempo.
Große Persönlichkeiten wie John Hunter und John Abernethy, die zur Professionalisierung der Chirurgie beitrugen, spielten hierbei eine wichtige Rolle. Chirurgie wurde so nicht mehr als bloße Handwerkskunst wahrgenommen, sondern als eigenständiger und prestigeträchtiger medizinischer Zweig. Mit dem Siegeszug der Chirurgie und der zunehmenden Spezialisierung innerhalb der Medizin wurde die Titelvergabe komplizierter. Ein interessanter Fall war etwa die Gynäkologie, die lange Zeit von Ärzten mit dem Titel „Dr.“ ausgeübt wurde.
Erst mit der Anerkennung der operativen Gynäkologie als chirurgisches Fach erhielten auch die entsprechenden Spezialisten die „Mr.“-Anrede. Dies illustriert die starke Orientierung der britischen Titulatur an der professionellen Praxis des jeweiligen Arztes, insbesondere an der chirurgischen Tätigkeit. Heutzutage ist die Situation aus Sicht eines Außenstehenden oft verwirrend, denn das medizinische Team, das einen Patienten behandelt, besteht aus einer Vielzahl von Fachrichtungen, in denen sowohl Ärzte als auch Chirurgen tätig sind. Dem Patienten wird häufig ein Allgemeinarzt (Dr.
) zu einem Spezialisten (häufig auch Dr.) und zuletzt ein Chirurg vorgestellt, der dann als Mr. adressiert wird. Der eigentliche medizinische Hintergrund der Anrede steht nicht mehr unbedingt in direktem Zusammenhang mit einem akademischen Grad, sondern ist ein traditionell gewachsener Ausdruck von fachlicher Zugehörigkeit. Diese historische Auffassung führt bei vielen, insbesondere internationalen Patienten und medizinischen Fachkräften, zu Verwirrung.
Die Tatsache, dass Patienten von acht Ärzten angesprochen werden können, die „Dr.“ tituliert werden, aber für den Chirurgen immer noch „Mr.“ als Anrede gilt, mag widersprüchlich erscheinen. Weiterhin sind postoperative Betreuung, Strahlentherapie, Chemotherapie, Radiologie und Pathologie ebenso integrale Bestandteile der modernen medizinischen Praxis, die alle von „Drs.“ erbracht werden.
Die britische Systematik steht damit beispielhaft für die Vermischung von Tradition und Moderne. Während viele medizinische Einrichtungen weltweit die einheitliche „Dr.“-Anrede pflegen, bewahren britische Chirurgen ihre jahrhundertealte Identität durch die Bezeichnung als „Mr.“ oder „Miss“ (für weibliche Chirurgen). Einige Stimmen innerhalb der Medizin hinterfragen mittlerweile, ob der alte Brauch weiterhin zeitgemäß ist oder nur ein überholtes Relikt, das abgeschafft werden sollte, um Klarheit zu schaffen und den modernen interdisziplinären Charakter der Gesundheitspflege zu unterstreichen.
Die Geschichte der „Mister“-Anrede illustriert nicht nur die Entwicklung der medizinischen Berufe in Großbritannien, sondern spiegelt auch größere Veränderungen in der Gesellschaft und im Selbstverständnis von Fachleuten wider. Sie zeigt, wie historische Umstände tiefgreifende kulturelle Praktiken prägen können, die bis heute fortbestehen. Es ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Sprache, Status und Berufsidentität miteinander verknüpft sind, sogar in Zeiten, in denen fachliche Übergänge und Teamarbeit im Gesundheitswesen immer wichtiger werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Bezeichnung „Mr.“ für (männliche) Chirurgen eine bedeutende Tradition ist, die von der historischen Entwicklung der Medizin im Vereinigten Königreich geprägt wurde.
Trotz moderner Entwicklungen und globaler Vernetzung bleibt sie ein unverwechselbares Kennzeichen britischer Chirurgen und erinnert an eine Epoche, in der die Professionalisierung der Medizin ihren Anfang nahm. Ob und wann diese traditionelle Anrede in Zukunft einer moderneren Bezeichnung weichen wird, bleibt offen, doch ihre Wurzeln und ihre Bedeutung sind untrennbar mit der Geschichte und Identität der Chirurgie verbunden.