Cornelius Cardew war einer der bedeutendsten avantgardistischen Komponisten Großbritanniens der 1960er Jahre. Mit seinem Werk Treatise schuf er eine grafische Partitur, die als das Nonplusultra der experimentellen Musiknotation gilt. Treatise ist eine Sammlung von 193 Seiten, gefüllt mit abstrakten schwarzen Linien, Kreisen, Rechtecken und anderen Zeichen, die keinerlei konventionelle Melodie- oder Rhythmusvorgaben enthalten. Dieses Werk stellt eine radikale Abkehr von traditionellen Musiknotationen dar und fordert den Interpreten auf, vollkommen frei und kreativ mit der Partitur umzugehen. Die offene Struktur und das Fehlen jeglicher Instruktionen machen jedes Aufführungserlebnis einzigartig und ermöglichen eine immense Vielfalt musikalischer Ausdrucksformen.
Auf den ersten Blick wirkt Treatise wie eine fremdartige, undurchdringliche Manuskriptsammlung, die eher an ein architektonisches Diagramm als an eine Musikpartitur erinnert. Fontärische Elemente und klare Linienführung zeigen Cardews Ausbildung als Grafiker, die er vor seiner musikalischen Karriere an der London College of Printing erwarb. Zwischen 1963 und 1967 arbeitete er mit penibelster Sorgfalt an diesem Werk, im Bewusstsein, dass einfache primitive Formen eine neue visuelle Sprache für Musik darstellen könnten. Der Einfluss von Karlheinz Stockhausen, unter dessen Anleitung Cardew als junger Komponist am Studio für elektronische Musik in Köln stand, zeigt sich in der experimentellen und modernen Ausrichtung seiner Kompositionen. Während Cardews Musik in verschiedenen Phasen zwischen modernistischer Strenge und lyrischer Verspieltheit pendelte, steht Treatise für seinen radikalsten Bruch mit musikalischen Konventionen.
Die Entstehung von Treatise fällt in eine Zeit intensiver gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen. Cardew selbst war politisch radikalisiert, schloss sich maoistischen Bewegungen an und vertrat eine revolutionäre kommunistische Haltung. Treatie ist somit nicht nur musikalisch avantgardistisch, sondern auch ein kulturelles Statement gegen das Establishment der Musikszene. Indem er traditionelle Notationsformen ablehnte, forderte Cardew die Machtstrukturen innerhalb der Musikwelt heraus und ermutigte insbesondere musikalische Laien, sich an der Interpretation zu beteiligen. John Tilbury, ein enger Freund und Pianist, beschreibt Treatise als einen Versuch, „den Teppich unter den Füßen der musikalischen Elite wegzuziehen“ – eine Provokation, die bis heute nachhallt.
Der visuelle Charakter von Treatise macht es zu einem Meisterwerk grafischer Kommunikation. Die Komposition setzt bewusst auf Leerräume als integralen Bestandteil des ästhetischen Gesamteindrucks und lädt zum Mitgestalten und Kommentieren ein. An manchen Stellen tauchen traditionell anmutende Notenzeichen wie p für piano (leise) oder f für forte (laut) auf, doch sie sind verfremdet und erinnern an das Verblasste und Vergangene. Die Fußzeile jeder Seite ist mit leeren Notenlinien versehen, die symbolisch an die traditionelle Musiknotation anknüpfen, ohne diese jedoch zu verwenden. Brian Dennis interpretiert diese Elemente als ein „Zeichen der Kommunikation mit dem Unbekannten“, das der Komponist zu erreichen versucht.
Der kreative Prozess hinter Treatise nutzte verschiedene Techniken wie Federzeichnungen und Letraset, eine damals populäre Methode zur Anbringung von Zahlen und Buchstaben im Grafikdesign. Die Vielfalt der Formen und Linien ist beeindruckend und zeigt Cardews Können als Typograf und Designer. Besonders die Seite 138 sticht hervor, auf der die Dynamikzeichen p und f in einem filigranen Muster verschlungen sind – eine visuelle Metapher für Klangdynamik und Ausdruck. Treaties musikalische Auslegung ist vollkommen offen. Es gibt keine vorgegebenen Instruktionen, keine Regeln, wie oder mit welchen Instrumenten gespielt werden soll.
Musiker können frei entscheiden, ob sie traditionelles Instrumentarium nutzen oder unkonventionelle Klangerzeuger wie Alltagsgegenstände einsetzen. Diese Freiheit macht das Werk besonders bei Ensembles der experimentellen Musik, aber auch bei Rockbands wie Sonic Youth, die Cardews Einfluss anerkennen, beliebt. Die zahlreichen Aufführungen unterschiedlichster Art zeigen die enorme Bandbreite und Lebendigkeit von Treatie. Rückblickend auf die Reaktionen von Kritik und Publikum auf Treatise sieht man, dass Cardew nicht nur musikalisch provozierte, sondern auch eine tiefgreifende Debatte über die Rolle des Komponisten, des Interpreten und des Zuhörers anstieß. Seine Ablehnung der traditionellen Notation war ein Statement gegen die Hierarchien in Kunst und Gesellschaft.
Diese Haltung führte zu heftiger Kritik und Ausgrenzung, jedoch ändert das nichts an der bleibenden Bedeutung seines Werkes. Treatie steht symbolisch für die Wiederherstellung menschlicher Handlungsfähigkeit und Kreativität anstelle von festgeschriebenen Regeln. Cardews Vision inspirierte Generationen von Komponisten und Musikern, die sich von eingefahrenen Strukturen befreien möchten. Die heutige Akzeptanz von grafischer Notation in verschiedensten Musikrichtungen ist auch seinem Mut zu verdanken. Seine künstlerische Verbindung von politischem Aktivismus, technischer Innovation und grafischem Design macht Treatise zu einem vielschichtigen, einzigartigen Kunstwerk, das weit über die Musikszene hinaus Strahlkraft entfaltet.
Treatie ist nicht nur das „Mount Everest“ unter den graphischen Partituren, sondern auch ein bedeutendes kulturelles Dokument der 1960er Jahre, das den Geist einer Zeit widergespiegelt, in welcher alte Normen hinterfragt und neu definiert wurden. Es ist das Werk eines Künstlers, der das Musikverständnis revolutionieren wollte, indem er einen Raum für Freiheit, Interpretation und menschlichen Ausdruck schuf. Auch heute bleibt Treatise eine Herausforderung und Einladung zugleich. Die Partitur zwingt uns dazu, Musik als etwas Lebendiges und Individuelles zu begreifen, das nicht an starre Strukturen gefesselt ist. Sie zeigt, dass musikalische Kreativität keine Grenzen kennt und dass jeder Mensch durch Klang seine eigene Geschichte erzählen kann.