In den letzten Jahren ist ein Phänomen zu beobachten, das viele Experten und Medienbeobachter gleichermaßen beschäftigt: die rapide Zunahme der Diagnosen psychischer Störungen wie ADHS, Autismus oder auch Tourette-Syndrom. Gleichzeitig entwickelt sich rund um diese Diagnosen eine regelrechte Konsumkultur. Online-Communities verbreiten sie nicht nur, sondern fördern auch eine breite Palette von Produkten und Dienstleistungen, die diese Identifikationen kommerziell nutzbar machen. Warum aber gibt es kaum eine ehrliche Debatte darüber, wie eng Diagnosen, soziale Dynamiken und ökonomische Interessen miteinander verflochten sind? Und warum verschweigen gerade die etablierten Medien, darunter auch renommierte Zeitungen wie die New York Times, häufig diesen Zusammenhang? Diese Fragen gilt es zu untersuchen, da die Folgen dieser Entwicklung gesellschaftlich weitreichend sind.Zunächst sollte man verstehen, wie psychische Störungen im öffentlichen Bewusstsein wahrgenommen werden.
Diagnosen wie ADHS oder Autismus gelten längst nicht mehr nur als medizinische Kategorien, sondern sind für viele Menschen zu Identitäten geworden, gerade auch in den sozialen Medien. Plattformen wie TikTok, Tumblr oder Twitter sind voll von Communities, die sich um diese Diagnosen formieren. Dort entstehen Memes, Geschichten und Narrative, die Betroffene bestärken und oft eine positive Haltung gegenüber der eigenen Diagnose fördern. In einer Zeit, in der die Stigmatisierung psychischer Krankheiten rückläufig ist, erscheint diese Entwicklung auf den ersten Blick positiv. Doch gerade hier liegt eine Herausforderung: Die Grenzen zwischen medizinischer Realität, Selbstwahrnehmung und sozialem Trend verschwimmen zunehmend.
Ein wesentlicher Aspekt, der in öffentlichen Diskussionen häufig fehlt, ist die Rolle eines sogenannten „sozialen Contagions“. Dabei handelt es sich um die Ausbreitung bestimmter Verhaltensweisen oder Identifikationen durch soziale Netzwerke und Gruppendynamiken. So werden Diagnosen und deren damit verbundene narratives oft nicht nur als Realität erfahren, sondern auch aktiv gesucht und gefördert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Menschen mit psychischen Belastungen erhalten durch eine Diagnose oftmals Zugang zu Rechtsschutz, Nachteilsausgleichen und sozialer Anerkennung. Manchmal sind die Diagnosen mit einer Art von sozialem Prestige verbunden, vor allem in der digitalen Welt, in der Identitäts-Communities großen Halt geben.
Dies führt dazu, dass Diagnosen „gefragt“ sind und sich die Zahl derer, die sich als betroffen verstehen oder diagnostizieren lassen, erhöht.Wie wirkt sich diese Entwicklung im medizinischen Bereich aus? Es besteht die Sorge, dass die diagnostischen Kriterien verwässert werden. Die offiziell verwendeten Richtlinien – wie das DSM in den USA oder das ICD international – sind bewusst breit gefasst, um möglichst viele Betroffene zu erfassen. Doch derart weit gefasste Kategorien bergen das Risiko, dass nahezu jeder Mensch Symptome auf sich beziehen kann. Manche Ärzte berichten, dass Patienten mit hohen Erwartungen oder explizitem Wunsch nach einer bestimmten Diagnose in die Praxis kommen.
Da Ärzte sich dem Risiko negativer Rückmeldungen und der Suche der Patienten nach alternativen Diagnosen ausgesetzt sehen, sind sie manchmal geneigt, eher einer Diagnose zuzustimmen. Dies führt zu einer Dynamik, die eine Steigerung der Diagnosen nach sich zieht, unabhängig von einer klaren medizinischen Notwendigkeit.Dazu kommt die Kommerzialisierung der Diagnosen. Produkte wie Bücher, Kleidung, Accessoires, Online-Kurse, exklusive Gemeinschaften und sogar Veranstaltungen entstehen in großer Zahl rund um die Themen ADHS oder Autismus. Diese „Industrie“ lebt von der Nachfrage nach Identitätsangeboten und bestätigt die damit verbundenen Narrative.
Durch Online-Plattformen wird die Reichweite enorm verstärkt und die Werbebotschaften finden ein breites publikum. Dadurch etabliert sich ein Markt für psychische Diagnosen, der weit über die medizinische Versorgung hinausgeht. Der Wert, den Menschen über diese Diagnosen generieren, ist nicht nur symbolisch, sondern finanziell relevant.Die Debatte wird zusätzlich kompliziert durch den sozialen Druck, der mit diesen Themen verbunden ist. Disability-Aktivistengruppen und Neurodiversitätsbewegungen setzen sich mit großer Kraft dafür ein, dass psychische Unterschiede nicht pathologisiert werden.
Sie fordern eine Umwertung der Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Behinderung. Gleichzeitig wird jeder, der diese Ideen kritisch hinterfragt oder auf die mögliche Problematik von Fehldiagnosen hinweist, häufig als ableistisch bezeichnet und damit sozial an den Rand gedrängt. Diese soziale Dynamik erzeugt eine Atmosphäre, in der Medien und Experten zögern, kritische Fragen zu stellen oder unbequeme Wahrheiten zu thematisieren.Ein weiterer Punkt ist die politische Dimension. Das Ansprechen von möglichen Fehlentwicklungen oder Fehlanpassungen in der Diagnosepraxis wird schnell als Angriff auf Menschen mit Behinderungen oder als Versuch der Diskriminierung interpretiert.
Zugleich erhalten Menschen mit diesen Diagnosen rechtliche Ansprüche auf Nachteilsausgleiche oder besondere Rücksichtnahmen. Daraus erwächst eine politische Debatte über Definitionen von Behinderung und die gesellschaftliche Verteilung von Ressourcen. In dieser brisanten Situation ist es verständlich, dass Medien sich schwer tun, eine differenzierte Sicht einzunehmen.Doch genau diese Differenzierung ist nötig, um langfristig gerechte und funktionierende medizinische und gesellschaftliche Systeme zu gewährleisten. Man muss ehrlich ansprechen, wie gesellschaftliche Trends, wirtschaftliche Interessen und soziale Bedürfnisse miteinander verwoben sind.
Statt Tabus oder unbelegte Schönreden ist eine transparente Auseinandersetzung gefragt. Nur so können sowohl Menschen, die tatsächlich unter belastenden psychischen Störungen leiden, angemessen unterstützt als auch einer übermäßigen Kommerzialisierung und Fehlentwicklung entgegengewirkt werden.Zudem zeigt der Blick auf die Diagnosen selbst: Psychiatrische Störungen sind keine statischen Kategorien mit eindeutig messbaren Biomarkern. Vielmehr bestehen sie aus einem dynamischen Zusammenspiel von biografischen, sozialen und neurobiologischen Faktoren. In einer digital vernetzten Welt verändern sich diese Faktoren und ihre Wechselwirkungen rasch.
Die Reaktion der Gesellschaft darauf sollte eine ebenso differenzierte sein – ein blinder Anstieg der Diagnosezahlen ist ein Warnsignal, das genauer betrachtet werden muss.Die Medien tragen dabei eine wichtige Verantwortung. Sie müssen über diese Phänomene informieren, ohne zu tabuisieren oder Betroffene zu stigmatisieren. Es geht darum, einen Raum für offene Debatten zu schaffen, in denen auch unbequeme Fragen gestellt werden dürfen. Die Berichterstattung sollte Transparenz über die ökonomische Dimension liefern und die Rolle sozialer Netzwerke kritisch reflektieren.