Die Geschichte von Onfim, einem mittelalterlichen Jungen aus dem Gebiet des heutigen Russlands, führt uns tief in die faszinierende Welt der Kinderkunst vergangener Zeiten. Seine Zeichnungen wurden auf Birkenrinde konserviert und erst im Zuge sowjetischer archäologischer Ausgrabungen im 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Diese seltenen Fundstücke sind nicht nur Zeugnisse eines längst vergangenen Alltags, sondern auch kraftvolle Belege kindlicher Ausdruckskraft, die über Jahrhunderte hinweg berühren. Onfim lebte etwa um das Jahr 1250 in der mittelalterlichen Stadt Nowgorod, einem der wichtigsten Handelszentren und kulturellen Knotenpunkte des russischen Mittelalters.
Die Birkenrinde, auf der seine Doodles und Zeichnungen gefunden wurden, diente eigentlich als Lernunterlage für Schulunterricht, auf denen Kinder lesen und schreiben übten. Doch Onfim verwendete sie auch dazu, seine Fantasie in Form von Bildern zu Papier zu bringen. Die Motivpalette reicht von Pferden und Rittern bis zu Selbstporträts und kleinen Geschichten, die fast an moderne Comics erinnern. Sein bekanntestes Bild zeigt einen Reiter mit Lanze, der einen besiegten Gegner durchbohrt. Der Reiter selbst wird mit dem Namen „Onfim“ versehen – ein ganz kindliches Zeugnis von Selbstbewusstsein und fantasievoller Selbstdarstellung.
Neben diesem Bild findet sich eine verspielte Annäherung an das Alphabet, wobei sich die Schrift scheinbar mit der Zeichnung vermischt. Diese Mischung aus Text und Bild spricht von einer originellen Art, Lernen und kreativen Ausdruck zu verbinden. Ebenfalls bemerkenswert sind die Porträts, die Onfim von sich selbst und seinem Vater anfertigte. Die Gesichter strahlen Freude aus, und die Figuren sind mit unverhältnismäßig langen Armen und spitzen Fingern gezeichnet, was Psychologen heute als Übergangsstil zwischen einfachen „Kaulquappen“-Figuren und ausgereiften Strichmännchen bezeichnen. Die Lebendigkeit dieser Darstellungen verrät, dass Kinder bereits im Mittelalter in der Lage waren, komplexe Emotionen und Beziehungen auszudrücken.
Die Kunsthistoriker und Anthropologen René Baldy und Daniel Fabre betonen, dass Onfims Werke mehr sind als bloße Kritzeleien. Vielmehr besitzen sie eine erzählerische Dimension, die mit bewussten Perspektivwechseln und Größenverhältnissen spielt. Eine Serie seiner Zeichnungen lässt sich fast wie eine Geschichte lesen: Ein Reiter erscheint von rechts, wächst in der Bildmitte zur zentralen Figur heran, während er seinen Gegner bezwingt, und reitet schließlich nach links davon. Dieses erzählerische Element ist eine frühe Form des grafischen Erzählens – eine Proto-Comic-Form, die aufzeigt, wie sehr Kinder bereits vor Jahrhunderten mit Bildern Geschichten teilten. Onfims Geschichte wirft auch einen Spiegel auf die universelle Natur der Kindheit.
Trotz der langen Zeitspanne und kulturellen Unterschiede ist das Wesen des Kindes und seine Art, die Welt wahrzunehmen und auszudrücken, bemerkenswert konstant geblieben. Seine Zeichnungen zeigen uns nicht nur eine Kindheit im mittelalterlichen Russland, sondern machen die Menschlichkeit und das natürliche Bedürfnis nach kreativer Selbstentfaltung erlebbar. Doch Onfim ist nicht das einzige Beispiel für mittelalterliche Kinderkunst. In Südfrankreich, nahe dem Ort Sorèze, entdeckten Archäologen Zeichnungen, die von Kinderminenarbeitern rund 100 Jahre früher geschaffen wurden. Hier sind die Motive düsterer und eindringlicher: Kinderzeichnung in Form von Höhlenmalereien aus Holzkohle, welche ihre Arbeitswelt zeigen.
Selbstbilder mit Bergmannsausrüstung, gefolgt von traurigen, nachdenklichen Augen, vermitteln eine andere Dimension von Kindheit – eine, die von Härte, Arbeit und Umwelt geprägt ist, die alles andere als kindgerecht war. Diese Kontraste zwischen den verspielten, fantasievollen Skizzen Onfims und den bedrückenden Minenzeichnungen von Sorèze eröffnen ein breiteres Verständnis von Kindheit in der Geschichte. Sie fordern uns auf, die Sichtweise auf das Mittelalter und die Lebenswelt von Kindern zu erweitern. Kindheit war damals, wie heute, vielfältig und komplex – geprägt von kulturellen, sozialen und ökonomischen Faktoren. Neben diesen archäologischen Funden gibt es weitere berühmte Beispiele von Kinderkunst, meist entstanden durch Kinder von außergewöhnlich begabten jungen Menschen.
Albrecht Dürer und Raphael, zwei der bedeutendsten Künstler der Renaissance, schufen Selbstporträts im frühen Teenageralter, die ihre frühe technische Begabung und ihren Blick auf sich selbst dokumentieren. Diese Werke fallen in den Bereich der sogenannten „Juvenilia“ – Werke, die von jungen Genies geschaffen wurden und bis heute bewundert werden. Weiterhin existieren Zeichnungen, die Kinder berühmter Persönlichkeiten hinterließen. Ein besonders amüsantes Beispiel sind die Illustrationen von Gemüsekämpfen, welche die Kinder Charles Darwins in den Randbereichen seines Exemplar von „Über die Entstehung der Arten“ kritzelten. Diese Zeichnungen geben nicht nur Einblicke in das familiäre Umfeld großer Denker, sondern verdeutlichen auch, wie alltäglich und universell kreatives Ausdrucksverhalten von Kindern ist.
Die immense Menge an kinderlicher Kunst, die im Lauf der Menschheitsgeschichte entstanden sein muss, lässt sich nur erahnen. Schätzungen basierend auf Bevölkerungszahlen und durchschnittlichen täglichen Kritzeleien von Kindern sprechen von Billionen kreativer Werke – von Zeichnungen, Bildern und anderen Formen künstlerischen Ausdrucks. Die meisten davon sind leider verloren, erhalten geblieben sind nur einzelne Kostbarkeiten, die uns heute staunen lassen. Onfims Wiederentdeckung in der Zeit der Sowjetunion und seine heutige Bekanntheit im Zeitalter des Internets zeigen, wie digitale Medien solche historischen Funde neu beleben und für die Öffentlichkeit zugänglich machen können. Seine Zeichnungen erinnern daran, dass Kindheit keineswegs ein abstrakter Zustand oder eine moderne Erfindung ist, sondern ein fester Bestandteil menschlicher Geschichte.