In der Welt der Videospiele ist der Weg vom ersten Prototyp bis zum kommerziellen Erfolg oft lang und voller Unwägbarkeiten. Besonders für Indie-Entwickler stellt dies eine enorme Herausforderung dar. Doch das Beispiel eines Spiels, das auf itch.io begann und später als Vollpreis-Titel auf Steam über eine Million Dollar Umsatz erzielte, zeigt, dass es möglich ist, mit begrenzten Ressourcen und viel Leidenschaft Großes zu erreichen. Die Geschichte von „The Roottrees are Dead“ ist nicht nur inspirierend, sondern auch lehrreich für jeden, der in der Spielebranche Fuß fassen möchte.
Die Entstehung des Spiels begann im Januar 2023 during dem Global Game Jam, einem Wettbewerb, bei dem Entwickler binnen 48 Stunden ein Spiel basierend auf einem vorgegebenen Thema kreieren. Jeremy Johnson, ein erfahrener Game Designer aus Phoenix, Arizona, nahm teil und interpretierte das Thema „Wurzeln“ als Familienbaum. Angetrieben von der Faszination für narrative Detektivspiele wie „Return of the Obra Dinn“ und „Her Story“, startete er ein Projekt, das schnelle Prototypen und kreative Ideen vereinte. Inspiriert durch neue Möglichkeiten der KI-generierten Kunst, insbesondere durch Midjourney, experimentierte Jeremy mit unendlich vielen Charaktergesichtern als Teil seines Spiels. Was als einfache, jedoch spielbare Kernversion entstand, gefiel den Teilnehmern des Game Jams.
Doch Jeremy sah das Potenzial für mehr und investierte weitere Monate in die Entwicklung, ohne sofort finanzielle Mittel aufzubringen – sein größtes Kapital war Zeit und Leidenschaft. Nach einigen zusätzlichen Monaten veröffentlichte er eine überarbeitete Version des Spiels kostenlos auf itch.io, einer Plattform, die sich als ideales Testfeld für experimentelle und noch nicht vollständig ausgefeilte Spiele bewährt hat. Die Entscheidung, das Spiel kostenlos mit KI-generierter Kunst auf itch.io anzubieten, war gewagt.
Dennoch zeigte sich schnell, dass die Spieler von der Geschichte und dem innovativen Gameplay fasziniert waren. Innerhalb des ersten Monats erzielte Jeremy durch eine freiwillige Spendenmöglichkeit bereits Einnahmen in Höhe von 3.000 US-Dollar – ein beachtlicher Betrag für ein kostenloses Indie-Spiel. Zudem verbreitete sich das Spiel über Mundpropaganda und kleinere Let’s-Play-Videos, was dazu führte, dass es stetig an Bekanntheit gewann. Ein entscheidender Durchbruch war, als der berühmte Gaming-Streamer Sean „Day[9]“ Plott das Spiel entdeckte und begeistert präsentierte.
Diese Resonanz bestätigte Jeremy, dass er mit „The Roottrees are Dead“ etwas Einzigartiges geschaffen hatte, das Spieler wirklich berührte. Gleichzeitig erhielt das Spiel Lob von der Presse und wurde in einer Übersicht der besten Spiele des Jahres 2023 geführt. Gegen Ende des Jahres fand sich Robin Ward, ein ehemaliger Softwareentwickler und Mitbegründer der erfolgreichen Discourse-Forum-Software, in einer Ausnahmesituation wieder: Aufgrund eines Unfalls war er gezwungen, eine erholsame aber begrenzte Freizeitbeschäftigung zu suchen. Er stieß auf Jeremy's Spiel und war sofort begeistert von dessen Tiefe und Charm. Robin bot Jeremy eine Partnerschaft an, bei der er die technische Überarbeitung, Finanzierung eines Grafik-Teams und die Veröffentlichung auf einer größeren Plattform, nämlich Steam, übernehmen würde.
Jeremy stimmte zu – so begann die zweite Entwicklungsphase. Der Wechsel auf Steam bedeutete eine komplett neue Herausforderung. Das Spiel musste von Grund auf neu programmiert werden, um den hohen Anforderungen der Steam-Community gerecht zu werden. Die KI-generierten Bilder wurden durch professionelle Illustrationen ersetzt, gezeichnet von Henning Ludvigsen, der bereits bei der Gestaltung von Charakter-Portraits für das Brettspiel Clue Erfahrung hatte. So entstand ein einheitliches und ansprechendes visuelles Design, das zum narrativen Stil des Spiels passte.
Zwischen Anfang 2024 und dem Launch im Januar 2025 arbeitete Robin intensiv daran, die Version von „The Roottrees are Dead“ nicht nur zu reproduzieren, sondern mit zusätzlichen Inhalten zu erweitern. Eine zweite Kapitelerweiterung fügte weitere Charaktere und Rätsel hinzu und sorgte für noch mehr Tiefgang. Das Marketing wurde behutsam angegangen. Statt auf teure Werbekampagnen oder auf Events wie Steam Next Fest zurückzugreifen, vertrieb sich das Spiel durch organische Reichweite, gute Pressearbeit und persönliches Engagement. Zwei Wochen vor Release intensivierte Robin die PR-Arbeit durch gezielte Presseansprachen, die mit einem clever formulierten Anschreiben bei Branchenkennern wie Jason Schreier gut ankamen.
Der Launch verlief erfolgreich: Innerhalb kurzer Zeit sammelte das Spiel über 13.000 Wishlists und erntete viele positive Bewertungen. Kritiker lobten die Kombination aus anspruchsvollen Rätseln, emotionaler Erzählweise und hochwertiger Präsentation. Die Spieler honorierten das Spiel mit einem Metacritic-Score von 87, ein selten hoher Wert für ein derart spezielles Indie-Spiel. Seit dem Launch sind die Umsätze kontinuierlich gestiegen, sodass „The Roottrees are Dead“ inzwischen die Millionengrenze überschritten hat.
Jeremy konnte nach dem Erfolg vollständig ins Projekt zurückkehren und gemeinsam mit Robin die weitere Entwicklung vorantreiben. Der Fall des Spiels zeigt, wie wichtig es ist, auf Feedback zu hören, das Spiel iterativ zu verbessern und offen für Kooperationen zu sein. Das Erfolgsrezept liegt auch darin, wie die Entwickler die Plattform itch.io als Inkubator genutzt haben. Dort konnten sie das Spiel in einem frühen, unfertigen Zustand präsentieren und echtes Feedback von einer engagierten Community erhalten, die offen für experimentelle Mechaniken war.
Anders als bei Steam, wo hohe Erwartungen und ein überfüllter Markt eher abschrecken können, erlaubt itch.io gerade kleineren Entwicklern, ihre Ideen schnell zu testen und zu validieren. Diese Geschichte zeigt außerdem, dass der Einfluss von Netzwerken, Streaming-Persönlichkeiten und der Presse nicht unterschätzt werden darf. Der Support von Day9, die Berichterstattung durch die AV Club oder positive Stimmen in Foren wirkten als Verstärker der Bekanntheit und sorgten für eine nachhaltige Aufmerksamkeit. Für Entwickler, die darüber nachdenken, wie sie mit einem eigenen Projekt durchstarten können, gilt die Lehre: Der Start auf einer Open-Access-Plattform mit niedrigem Eintrittshemmnis ist ideal, um alle Schwachstellen zu finden und das Spielerlebnis zu verfeinern.
Eine spätere Investition in professionelle Umsetzung und Expansion kann sich dann auszahlen und das Publikum auf größere Plattformen bringen. Darüber hinaus verdeutlicht der Erfolg, dass kostenlose Spiele auf itch.io nicht zwangsläufig finanzielle Einbußen fürchten müssen. Vielmehr können sie als „Demoversion“ für ein später verkauftes Produkt angesehen werden, das bereits eine loyale Fanbasis hat und viele positive Empfehlungen generiert. Diese Community fungiert als Multiplikator bei der Markteinführung und hilft, den Umsatz signifikant zu steigern.
„The Roottrees are Dead“ ist auch Beispiel dafür, wie moderne Tools wie KI-basierte Kunstgeneratoren zur Unterstützung von Prototypen genutzt werden können. Trotz der Notwendigkeit, diese Elemente später professionell zu ersetzen, beschleunigen solche Technologien die Entwicklungsphase und helfen, erste Konzepte attraktiver und schneller spielbar zu machen. Insgesamt verdeutlicht die Geschichte dieses Spiels, dass bei konsequenter Hingabe, kluger Nutzung von Plattformen und offenem Austausch mit der Community große Erfolge möglich sind – auch ohne ein Millionenbudget und riesiges Team. Indie-Entwickler sollten daher Mut fassen und ihre Projekte frühzeitig veröffentlichen, um so das wertvolle Feedback zu erhalten, das oft den entscheidenden Unterschied ausmacht. Auch für Marketer und Publisher lohnt es sich, Ausschau nach vielversprechenden Titeln auf Plattformen wie itch.