In den letzten Jahrzehnten hat die Nutzung psychoaktiver Substanzen wie Ayahuasca und Magic Mushrooms weltweit an Aufmerksamkeit gewonnen. Insbesondere im Zusammenhang mit indigenen Völkern des Amazonasbeckens und Mittelamerikas wird oft die Erzählung verbreitet, dass diese Kulturen seit Tausenden von Jahren Psychedelika zu Heilzwecken und spirituellen Ritualen verwenden. Diese Vorstellung hat sich nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit durchgesetzt. Medienberichte, Bestseller-Bücher und touristische Anbieter nährten diese Faszination und so entstand ein Mythos über eine globale, archaische psychedelische Tradition. Doch wie belastbar ist dieser Mythos wirklich? Studien und Feldforschungen zeigen, dass die Realität komplexer und oft ganz anders ist als die populären Geschichten.
Der österreichische Anthropologe Bernd Brabec de Mori ist ein wichtiger Kenner der Kulturen des westlichen Amazonasgebiets. Nach seinem mehrjährigen Aufenthalt bei den Shipibo-Konibo, einer indigenen Gruppe im peruanischen Regenwald, und seinem Studium der dortigen musikalischen Traditionen mit Fokus auf Ayahuasca-Lieder, kam er zu einem überraschenden Schluss: Die verbreitete Annahme, Ayahuasca sei seit Jahrtausenden ein fester Bestandteil der regionalen Kultur, entspricht nicht den Tatsachen vor Ort. Seine Forschung enthüllte eine sogenannte „Doppeldiskurs“-Struktur. Dabei haben Einheimische erkannt, dass Touristen und westliche Forscher an bestimmten Geschichten interessiert sind – vor allem an Erzählungen über uralte Traditionen und mystische Praktiken. Aus diesem Grund passen sie ihre Berichte gelegentlich an, um den Erwartungen der Besucher zu entsprechen.
Die Folge ist eine Narration, die romantisch und traditionsreich wirkt, aber in der Realität nicht zwingend verankert ist. Die historischen Wurzeln des Ayahuasca-Gebrauchs im Amazonas sind laut Brabec de Mori wesentlich jünger als vermutet. Durch linguistische Untersuchungen stellte er fest, dass die Bezeichnungen für das Getränk und die mit ihm verbundenen Rituale in den zahlreichen Sprachen der Region überraschend ähnlich sind und oft auf Quechua oder Spanisch zurückgehen – Sprachen, die nicht ursprünglich aus dem Amazonasgebiet stammen. Dies deutet auf eine Diffusion und Verbreitung von Ayahuasca erst in den letzten 300 Jahren hin, unter anderem durch Kontakt und Einfluss europäischer Missionare sowie wirtschaftlicher Expansion wie der Gummigewinnung. Diese Erkenntnis stellt die populäre Annahme einer jahrtausendealten, unveränderten psychedelischen Tradition, die von indigenen Heilern weitergegeben wurde, grundlegend in Frage.
Gleichzeitig zeigt sie, wie leicht scheinbar authentische kulturelle Narrative durch Tourismus und wirtschaftliche Interessen beeinflusst werden. Insbesondere Besucher, die an spirituellen Erfahrungen interessiert sind oder eine romantisierte Vorstellung von „uralter Weisheit“ pflegen, neigen dazu, solche Geschichten anzunehmen und zu verbreiten. Ein weiterer theoretischer Hintergrund zu diesem Thema ist die sogenannte globale archaische psychedelische Schamanismus-Hypothese (GAPS). Sie besagt, dass psychedelische Substanzen weltweit seit prähistorischer Zeit weit verbreitet waren, von Schamanen therapeutisch genutzt wurden und somit eine wichtige Rolle in der menschlichen Kulturentwicklung spielten. Diese drei Grundannahmen machen die Hypothese für viele attraktiv, vor allem vor dem Hintergrund der modernen Renaissance psychedelischer Medizin und Spiritualität.
Doch die Wissenschaft steht dieser Hypothese skeptischer gegenüber. Die archäologischen und ethnographischen Belege für eine weitreichende, jahrtausendelange psychedelische Verwendung sind rar, uneindeutig oder sehr regional beschränkt. Besonders die umfassende Arbeit von Forschern wie Martin Fortier, der eine große Datenbank zur dokumentierten Verwendung halluzinogener Substanzen über Kulturen und Zeiten hinweg ankündigte, zeigt ein differenziertes Bild: Bis auf wenige regionale Ausnahmen waren psychedelische Substanzen in der Vorgeschichte der Menschheit kaum verbreitet. In präkolumbianischen Kulturen Nord- und Mittelamerikas wurden sie zwar genutzt, doch selbst dort war der Gebrauch begrenzt und keinesfalls universell. Auch der berühmte Fall der Magic Mushrooms und ihrer Bekanntmachung durch Robert Gordon Wasson in den 1950er Jahren illustriert, wie Narrationen entstehen, die das Bild psychedelischer Traditionen prägen.
Wassons Erlebnisse mit der Mazateken-Schamanin María Sabina wurden über amerikanische Magazine wie Life und The Week weltweit bekannt und lösten eine regelrechte Psychedelika-Welle aus. Seine Interpretation und Popularisierung bestätigten die Vorstellung uralter Verbreitung und mystischer Praktiken, obwohl auch hier historische und ethnische Details differenzierter zu betrachten sind. Obwohl die Faszination für diese Geschichten verständlich ist, ist es umso wichtiger, die tatsächlichen kulturellen Realitäten zu verstehen. Anthropologische Studien zeigen, dass der psychedelische Gebrauch unter indigenen Heilern oft ganz andere gesellschaftliche Funktionen erfüllt als in westlichen Heilpraktiken. Zum Beispiel dienen die Substanzen in traditioneller Schamanismuspraxis nicht primär der psychotherapeutischen Heilung im westlichen Sinne, sondern der Kommunikation mit anderen Geistwelten, der Durchführung ritueller Handlungen oder auch der Ausübung von magischem Einfluss.
Beispielsweise verdeutlicht der ethnographische Film „Magical Death“ von Napoleon Chagnon die vielfältigen Funktionen psychedelischer Praktiken bei den Yanomami: Spirituelle Kräfte werden beschworen, um Heilungen zu bewirken oder auch feindliche Kräfte zu bekämpfen. Die Behandlung psychischer Leiden, wie sie in modernen Therapien üblich ist, ist dabei nur ein kleiner Teil des gesamten kulturellen Kontexts oder auch gar nicht vorgesehen. Zudem zeigt die Praxis, dass der für Touristen zugängliche Teil psychedelischer Medizin oft von kommerziellen Interessen geprägt ist. Heiler, die vor allem westliche Besucher behandeln, bieten meist therapeutische Sitzungen gegen Bezahlung an, welche den Erwartungen der Touristen an psychedelische Erfahrungen entsprechen. Gleichzeitig gibt es lokale Schamanen, die in ihren Gemeinschaften ganz andere, traditionellere Rollen einnehmen und Rituale durchführen, die nicht direkt zur Behandlung psychologischer Probleme dienen.
Das Verständnis psychedelischer Substanzen und ihrer kulturellen Bedeutung wird also stark durch den Blickwinkel beeinflusst, aus dem sie betrachtet werden: Aus westlicher Sicht erscheinen sie häufig als Werkzeuge für die Therapie und Selbsterkenntnis. Aus indigener Sicht sind sie weiterhin vor allem Mittel, um mit der geistigen Welt zu kommunizieren, soziale und kosmische Ordnung herzustellen oder auch Konflikte zu lösen. Die Verbreitung der Mythen um uralte psychedelische Verwendung hat auch mit einem Bedürfnis in der westlichen Gesellschaft zu tun, alte Weisheiten und spirituelle Ursprünge zu entdecken und zu idealisieren. Dies nährt die Romantisierung indigener Kulturen und führt zu einer Vermischung von Ethnologie, Spiritualität und Marketing. Nicht zuletzt spielen wirtschaftliche Aspekte wie der wachsende Psychedelik-Tourismus und das kommerzielle Interesse an psychedelischer Medizin eine große Rolle bei der Verbreitung bestimmter Narrative.
Zugleich fordert diese kritische Betrachtung eine verantwortungsvolle Annäherung an indigene Kulturen und ihre Traditionen. Es ist wichtig, sie nicht auf westliche psychotherapeutische Konzepte zu reduzieren oder ihnen Bedeutungen zuzuschreiben, die aus westlichen Kontexten stammen. Stattdessen gilt es, ihre komplexe kulturelle Praxis zu respektieren und differenziert zu verstehen. Die Diskussion um die Geschichte der psychedelischen Substanzen zeigt, wie komplex, vielschichtig und politisch aufgeladen kulturelles Wissen sein kann, insbesondere wenn es durch die Linse von Tourismus, Wissenschaft und Kommerz betrachtet wird. Nur durch kritische und reflektierte Forschung kann die Wahrheit hinter Mythos und Wirklichkeit getrennt und ein authentisches Verständnis für die Rolle dieser Substanzen in unterschiedlichen Kulturen gewonnen werden.
Letztendlich ist der Mythos uralter globaler psychedelischer Traditionen nicht gänzlich unbegründet, doch er beruht oft auf Übertreibungen und einseitigen Darstellungen, die den Reichtum und die Vielfältigkeit menschlicher Kulturgeschichte nicht vollständig widerspiegeln. Statt Geschichten aufzuschnappen, die vor allem westlichen Erwartungen entsprechen, sollten wir darauf achten, den Stimmen der indigenen Gemeinschaften selbst zuzuhören und wissenschaftliche Erkenntnisse und Feldforschung zu respektieren. Psychedelika als kulturelle und medizinische Werkzeuge sind faszinierend und wertvoll, doch ihre Geschichte ist komplexer und spannender als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Indem wir die Verklärung durch touristische und mediale Mythen erkennen, eröffnen wir Raum für ehrlichere Gespräche und ein tieferes Verständnis über die Rolle dieser Pflanzen und Pilze im Wandel der menschlichen Zivilisation.