Alfred Stieglitz gilt als einer der bedeutendsten Pioniere der modernen Kunstbewegung in den Vereinigten Staaten. Sein Wirken als Fotograf, Galerist und kultureller Vermittler begann bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts und prägte nachhaltig die Kunstlandschaft Amerikas. Dabei war er weit mehr als nur ein Künstler oder Geschäftsmann – er war ein Impresario, der es verstand, innovative Kunstformen zu fördern und neue Talente voranzubringen. Seine Galerie 291 wurde zum Scharnierpunkt für die Begegnung zwischen amerikanischer und europäischer Moderne und markierte eine neue Ära im künstlerischen Schaffen.
Die Wirkung von Alfred Stieglitz reichte weit über die Fotografie hinaus und beeinflusste sowohl seine unmittelbare Umgebung als auch zukünftige Generationen von Künstlern. Geboren 1864, begann Stieglitz seine Karriere als Fotograf und gehörte zu den Pionieren der sogenannten Piktorialismus-Bewegung, die Fotografie als anerkannte Kunstform etablieren wollte. Gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Edward J. Steichen gründete er 1905 die Galerie Little Galleries of the Photo-Secession, besser bekannt unter dem Namen »291« nach der Adresse in New York, 291 Fifth Avenue. Anfangs diente diese kleine Galerie hauptsächlich zur Ausstellung von photographischen Arbeiten der Photo-Secessionisten, entwickelte sich aber sehr schnell zum führenden Ausstellungsort für moderne Kunst – sowohl amerikanische als auch europäische.
Die Bedeutung von 291 lag vor allem in Stieglitz’ Gabe, das innovative Potenzial der Zeit zu erkennen und zu fördern. Mit Hilfe seiner engen Mitarbeiter wie Steichen, Marius de Zayas und Max Weber konnte er eine Brücke zu europäischen Künstlern schlagen. Die Galerie zeigte unter anderem Werke von Auguste Rodin, Henri Matisse, Paul Cézanne und Pablo Picasso – alles Künstler, die damals in Amerika noch weitgehend unbekannt waren. Stieglitz war somit einer der ersten, der die amerikanische Öffentlichkeit mit den revolutionären Tendenzen der europäischen Moderne vertraut machte. Die Ausstellung von Picassos Zeichnung „Standing Female Nude“ im Jahre 1910 gilt als bahnbrechender Moment, da Stieglitz dieses Werk nicht nur präsentierte, sondern auch erwarb.
Parallel dazu baute Stieglitz einen Kreis junger amerikanischer Künstler auf, die sich intensiv mit den neuen künstlerischen Strömungen auseinandersetzten. Namen wie Arthur Dove, Marsden Hartley, John Marin, Alfred Maurer oder Abraham Walkowitz zählen zu den Protagonisten dieser Gruppe, die unter dem Einfluss der europäischen Avantgarde eine eigenständige amerikanische Moderne zu formen begann. Ihre Werke reflektierten die pulsierende Metropole New York mit ihren Wolkenkratzern, der Schnelllebigkeit der urbanen Gesellschaft und den Herausforderungen einer zunehmend industrialisierten Welt. John Marins „Saint Paul’s, Manhattan“ beispielsweise bringt die Energie und Bewegung der Großstadt in dynamischen Wasserfarben zum Ausdruck. Aber Stieglitz war nicht nur Galerist, sondern auch aktiver Künstler und Fotograf, der sich immer wieder mit den zentralen Themen seiner Zeit auseinandersetzte.
Ein besonderes Anliegen war ihm die Förderung von Georgia O’Keeffe, die bald zu einer der bedeutendsten amerikanischen Malerinnen avancierte. O’Keeffe stellte bereits 1916 bei 291 aus, und ihre intensive Zusammenarbeit mit Stieglitz führte zu tiefgehenden künstlerischen und persönlichen Verbindungen. Stieglitz fotografierte O’Keeffe in zahllosen Porträts und verhalf ihr durch Ausstellungen zu großer Bekanntheit. Sie gilt heute als Inbegriff einer eigenständigen amerikanischen Moderne, die nicht zuletzt durch Stieglitz’ unermüdliches Engagement gefördert wurde. Die legendäre Armory Show von 1913, eine der wichtigsten Ausstellungen moderner Kunst in der amerikanischen Geschichte, spielte ebenfalls eine bedeutende Rolle in Stieglitz’ Leben.
Obwohl er nicht zu den Organisatoren gehörte, unterstützte er das Ereignis enthusiastisch. Als Ehrenvorsitzender, neben Persönlichkeiten wie Claude Monet und Mabel Dodge, sorgte er für die Ausleihe wichtiger Werke, unter anderem das Gemälde „Improvisation 27 (Garden of Love II)“ von Vasily Kandinsky. Diese Ausstellung war bahnbrechend, da sie erstmals eine breite amerikanische Öffentlichkeit mit den radikalen Neuerungen der europäischen Kunst konfrontierte und damit das Verständnis und die Akzeptanz moderner Kunst maßgeblich förderte. Die wechselvolle Geschichte von 291 und der erweiterten Aktivitäten Stieglitz’ spiegelt dabei nicht nur die Herausforderungen künstlerischer Avantgarde, sondern auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zeit wider. Der Erste Weltkrieg führte zu psychischen Belastungen und finanziellen Engpässen, die 1917 schließlich zur Schließung der Galerie führten.
Stieglitz zog sich daraufhin verstärkt auf seine eigene künstlerische Arbeit zurück und setzte seine Tätigkeit über neue Veranstaltungsorte fort. In den 1920er Jahren gründete er die Galerie The Intimate Gallery und wenig später An American Place. Hier zeigte sich sein verstärktes Bekenntnis zu einer authentischen amerikanischen Kunst, die nicht länger nur im Schatten europäischer Vorbilder stand. In dieser Phase festigte er den Kreis seiner Künstler um Persönlichkeiten wie Dove, Hartley, Marin, O’Keeffe, Charles Demuth und Paul Strand. Zusammen mit Schriftstellern wie Waldo Frank, Paul Rosenfeld und William Carlos Williams entstand ein komplexes kulturelles Netzwerk, das die amerikanische Moderne selbstbewusst definieren und verbreiten wollte.
Die Idee einer »nationalen Identität« in der Kunst wurde vermehrt diskutiert und in Werken wie Demuths „I Saw the Figure 5 in Gold“ – eine Hommage an den Dichter Williams – künstlerisch umgesetzt. Diese verschmolzene Darstellung von Literatur, Malerei und urbanem Leben symbolisierte den Geist einer neuen amerikanischen Kunst, die ihre Inspiration aus der eigenen Kultur und Umgebung bezog. Alfred Stieglitz unterstützte seine Künstler auch emotional und förderte vor allem O’Keeffes experimentelle Annäherung an Naturformen. Ihre floralen Stillleben, darunter die berühmte „Black Iris“, gelten als Höhepunkt einer tiefgreifenden Neudefinition von Komposition, Form und Farbe innerhalb der amerikanischen Moderne. O’Keeffes Arbeiten wurden somit zum Symbol für einen eigenständigen Stil, der auf der weltweiten Bühne Anerkennung fand, ohne den amerikanischen Kontext zu verlieren.
Im Laufe der 1930er und 1940er Jahre verlagerte sich der Fokus von Stieglitz’ Kreis zunehmend auf spirituelle und abstrahierende Ausdrucksformen, die den Übergang von figurativer Malerei hin zur Abstraktion markierten. Die Verbindung zwischen Natur und Abstraktion wurde zum künstlerischen Leitmotiv, das klassische Grenzen verwischte und neue Ausdrucksmöglichkeiten schuf. Stieglitz’ unermüdlicher Einsatz brachte diese Künstler in den Mittelpunkt der amerikanischen Kunstszene und schuf Marktbedingungen und ein neues Bewusstsein für die Bedeutung moderner, authentisch amerikanischer Kunst. Das umfangreiche Vermächtnis von Alfred Stieglitz zeigt sich heute nicht nur in seinen eigenen fotografischen Arbeiten, sondern vor allem in den bedeutenden Kunstsammlungen, die er kuratierte und die heute in renommierten Institutionen wie dem Metropolitan Museum of Art, der National Gallery of Art, dem Art Institute of Chicago und weiteren Häusern verwahrt werden. Seine Vision und sein Einfluss auf die amerikanische Kunstszene sind bis heute spürbar und bilden eine wesentliche Grundlage für das Verständnis der modernen Kunst in den USA.