Die Welt des Online-Schachs hat sich in den letzten Jahren rasant verändert und wird heute von zwei großen Plattformen dominiert: Chess.com und Lichess.org. Beide Plattformen bieten Schachspielern weltweit die Möglichkeit, online zu spielen, zu trainieren und an Turnieren teilzunehmen. Besonders interessant ist dabei, wie sich die Aktivität von Großmeistern – den absoluten Topspielern im Schach – über die Jahre hinweg auf diesen Plattformen entwickelt hat.
Im Folgenden wird eine umfassende Analyse der Großmeister-Aktivität auf Chess.com und Lichess von 2008 bis 2025 betrachtet, die nicht nur Einblicke in Trends und Nutzerverhalten gibt, sondern auch die Auswirkungen der globalen Pandemie auf das Online-Schach beleuchtet. Seit der Einführung von Chess.com im Jahr 2007 gewann die Plattform schnell an Bedeutung, vor allem bei professionellen Schachspielern. Die Verfügbarkeit von Trainingsmodulen, interaktiven Lektionen und der Tradition von organisierten Turnieren machten Chess.
com für viele Topspieler äußerst attraktiv. Lichess hingegen startete später und gewann erst ab 2014 nennenswert Aufmerksamkeit unter Großmeistern. Die anfänglich geringe Aktivität von GMs auf Lichess zeigt die zurückhaltendere Anfangszeit, doch im Laufe der Jahre begann sich dies drastisch zu verändern. Ein Wendepunkt dieser Entwicklung war zweifellos die COVID-19-Pandemie im Jahr 2020. Während der Lockdowns und Kontaktbeschränkungen entschlossen sich viele Großmeister, verstärkt online zu spielen.
Die Daten zeigen einen sprunghaften Anstieg der engagierten Großmeister, die mindestens eine Partie auf einer der beiden Plattformen spielten. Bei Chess.com erreichte die Anzahl der aktiven Großmeister im Mai 2020 mit 922 ihren Höhepunkt. Parallel dazu verdoppelte sich die Zahl der auf Lichess aktiven Großmeister zwischen Januar und April 2020 und erreichte im Januar 2021 mit 728 einen eigenen Höhepunkt. Diese Zahlen lassen den Schluss zu, dass der Großteil der etwa 1.
400 aktiven Großmeister weltweit während der Pandemie online spielten, zum Teil sogar auf beiden Plattformen parallel. Vor der Pandemie wuchsen beide Plattformen relativ konstant, aber die Corona-Krise löste einen regelrechten Schub aus, der das Interesse am Online-Schach in bisher ungekanntem Maße ansteigen ließ. Was folgt, ist eine langsame, aber erkennbare Rückkehr zu etwas geringerer Aktivität, wobei Chess.com seine Position als führende Plattform unter Großmeistern tendenziell stabilisieren konnte, während Lichess nach der Pandemie einen leichten Rückgang der Großmeister-Aktivität verzeichnet. Eine besonders spannende Frage stellt sich: Hat Lichess Chess.
com in Sachen Großmeister-Kompetenz überholt? Eine oberflächliche Betrachtung der aktiven Spielerzahlen legt nahe, dass Chess.com vorn liegt. Doch bei der Anzahl der gespielten Partien zeigen die Daten für das Jahr 2020 eine andere Geschichte. Lichess überholte Chess.com sogar bei der Gesamtzahl der Partien, was zunächst überraschend wirkt.
Die Erklärung dafür liegt im Spieltyp: Lichess ist bei Schnellpartien, insbesondere beim sogenannten Bullet-Schach, deutlich bevorzugt. Bullet-Schach bezeichnet ultrakurze Partien, in denen die gesamte Bedenkzeit pro Spieler oft nur eine Minute oder sogar noch weniger beträgt. Gerade in diesem rasanten Format zeigte Lichess seine Stärke und gewann bei Großmeistern enorm an Popularität. Die Zahlen belegen, dass Lichess bei Bullet-Schach führend ist. Bereits vor der Pandemie zeichnete sich ein Trend ab, doch die erhöhte Online-Aktivität während 2020 verstärkte diesen Effekt massiv.
So wurden in einem einzigen Monat, Mai 2020, auf Lichess von Großmeistern knapp 128.000 Bullet-Partien gespielt. Damit lag Lichess etwa fünffach vor Chess.com im gleichen Zeitraum. Ein genauerer Blick auf die Bullet-Partien auf Lichess zeigt, dass die Time-Control 1+0 (eine Minute pro Spieler ohne Inkrement) über 90 Prozent aller Bullet-Partien ausmacht.
Noch schnellere Formate wie Hyperbullet mit 30 Sekunden oder weniger sind zwar vorhanden, aber deutlich seltener. Im Gegensatz zu Lichess dominiert auf Chess.com das Blitz-Schach, das etwas längere Bedenkzeiten bietet als Bullet. Die Daten zeigen, dass Chess.com bei den Blitz-Partien führend ist, insbesondere während der Höhepunkte der Pandemie im April und Mai 2020, wo die Anzahl der Blitz-Partien auf beiden Plattformen etwa gleich war.
Nach dem pandemischen Höhepunkt nahm die Blitz-Aktivität auf Lichess jedoch stark ab, während Chess.com weiterhin nahezu doppelt so viele Blitz-Partien aufweist und diese Zahl im Jahr 2024 sogar weiter anstieg. Neben reinen Zahlen spielen auch die unterschiedlichen Nutzererlebnisse und Angebote eine entscheidende Rolle für die Plattformwahl der Großmeister. Chess.com wird oft für seine vielfältigen Turniere, etwa die bekannten und beliebten „Titled Tuesday“-Events, gelobt.
Das Angebot an Preisgeldern und der Stream-freundliche Aufbau der Seite fördern zusätzlich eine lebendige Turnierszene und aktive Community. Lichess punktet dagegen mit seinem minimalistischen Design, das auf Geschwindigkeit und unmittelbaren Zugang zum Spiel fokussiert ist. Eine bekannte Aussage des Großmeisters Hikaru Nakamura unterstreicht dies: Er beschrieb, dass sich das Spielen auf Lichess „deutlich schneller anfühlt“ als auf Chess.com. Das zieht besonders diejenigen Spieler an, die das schnelle Bullet-Schach bevorzugen.
Für die Datenerhebung und Analyse wurden riesige Datenmengen genutzt, die zeigen, wie aussagekräftige Erkenntnisse aus großen Schach-Datenbanken gewonnen werden. Das verwendete Dataset ist Teil der ChessMonitor-Datenbank, einer der umfangreichsten weltweit. Sie beinhaltet mehr als 93 Millionen Spiele von Chess.com, 82 Millionen von Lichess sowie weitere zehn Millionen Partien aus klassischen Turnieren und anderen Quellen. Die Nutzung solcher Daten ermöglicht es, nicht nur Trends und Verhaltensmuster von Großmeistern zu verfolgen, sondern auch tiefere statistische Einblicke wie etwa die Umrechnung von Online-Ratings in FIDE-Wertungen oder historische Entwicklungen bei Spielstärken zu gewinnen.
Dennoch gibt es auch Einschränkungen: Manche Großmeister spielen möglicherweise mit mehreren Accounts oder nutzen nicht verifizierte Profile, wodurch einzelne Zahlen leicht verzerrt sein können. Insgesamt zeigt die Entwicklung der Großmeister-Aktivität zwischen Chess.com und Lichess eindrucksvoll, wie unterschiedlich sich die beiden Plattformen im Bereich des Online-Schachs positionieren und welchen Einfluss gesellschaftliche Ereignisse wie die Pandemie haben. Während Chess.com seine Stärke im organisierten Turnierschach und bei längeren Zeitkontrollen beweist, etablierte sich Lichess als bevorzugte Plattform für schnelle Partien, insbesondere Bullet-Schach.