In den letzten hundert Jahren hat sich die Welt dramatisch gewandelt – nicht zuletzt durch die Einführung und Verbreitung synthetischer Chemikalien. Was einst als technologischer Fortschritt gefeiert wurde, hat heute tiefgreifende Folgen für unsere Gesundheit, Umwelt und das tägliche Leben. Doch wie kam es dazu, dass unsere Welt förmlich in diesen Stoffen versank? Die Geschichte beginnt in den 1930er Jahren, als große Chemieunternehmen versuchten, ihr Image zu verbessern, und reicht bis in die heutige Zeit, in der viele dieser Substanzen als »Forever Chemicals« bekannt sind – Chemikalien, die in der Umwelt nicht abbaubar sind und sich weltweit anreichern. Ein Blick zurück offenbart nicht nur technische Innovationen, sondern auch die Folgen von mangelnder Regulierung und wirtschaftlichen Interessen, die bis heute spürbar sind. Die Geburtsstunde der synthetischen Chemikalien lässt sich auf das Jahr 1934 zurückführen, als das US-Unternehmen DuPont in eine schwere PR-Krise geriet.
Als führender Waffenhersteller stand die Firma in der Kritik, profitgierig den Krieg befeuert zu haben und gleichzeitig dunklen politischen Machenschaften nahezustehen. Um sein angeschlagenes Image zu retten, beschloss DuPont, sich neu zu positionieren – nicht mehr als Produzent von Waffen, sondern als Erfinder innovativer Produkte, die das Leben der Menschen bereichern sollten. Ein Paradebeispiel dafür war die Entwicklung von Nylon, einer synthetischen Faser, die als revolutionär galt und schnell in Mode kam. Die breite Öffentlichkeit war fasziniert, und Nylon wurde zum Symbol des technischen Fortschritts. Dieser Wandel in der Wahrnehmung der Chemieindustrie wurde durch den Zweiten Weltkrieg massiv beschleunigt.
Natürliche Ressourcen wie Stahl und Gummi waren knapp, und die US-Regierung investierte massiv in die Forschung und Produktion synthetischer Materialien. Die chemische Industrie expandierte rasant und entwickelte neue Kunststoffe und Fasern, die nicht nur militärische Anwendungen fanden, sondern später auch den Alltag der Menschen durchdrangen. Produkte wie Plastikbehälter, Hula-Hoops oder wasserabweisende Stoffe wurden allgegenwärtig. Diese Materialien boten enorme Vorteile: Sie waren billig, vielseitig und langlebig. Doch die Schattenseite zeigte sich bald: Viele dieser neuartigen Chemikalien wurden nie umfassend auf ihre Sicherheit geprüft.
Die Annahme, dass solche Stoffe harmlos seien, weil sie technologische Fortschritte verkörperten, blieb lange vorherrschend. Ein prominenter Wissenschaftler jener Zeit war Robert Kehoe, ein toxikologischer Berater der Industrie, der fast religiös an die uneingeschränkte Macht der Technologie glaubte. Er hielt es für riskant, die Öffentlichkeit mit möglichen Gesundheitsgefahren zu beunruhigen, da die Industrialisierung und ihr Nutzen für die Gesellschaft Vorrang haben müssten. Dabei verfügte er über umfangreiches, aber unveröffentlichtes Datenmaterial, das auf die Risiken vieler synthetischer Stoffe hinwies. Die Industrie nutzte seine Arbeit, um Kritik abzuwehren und Zweifel an der Gefährlichkeit ihrer Produkte zu säen.
In den 1950er Jahren begann sich jedoch wissenschaftlich ein anderes Bild zu zeichnen. Forscher erkannten, dass viele dieser Chemikalien bereits in extrem niedrigen Konzentrationen den menschlichen Körper schädigen können. Sie störten hormonelle Abläufe, beeinflussten die Entwicklung von Föten sogar noch im Mutterleib und waren mit Krankheiten wie Krebs, neurologischen Störungen und Unfruchtbarkeit verknüpft. Aktivisten und einige Politiker versuchten daraufhin, die gesetzliche Regulierung zu verschärfen und eine Sicherheitsprüfung für neue und bestehende Stoffe durchzusetzen. Wilhelm Hueper, ein ehemaliger Pathologe der Industrie, warnte schon in den 1930er Jahren vor der Gefahr synthetischer Chemikalien für die Gesundheit.
Die chemische Industrie reagierte jedoch mit massiven Lobbying-Kampagnen, geschickter PR und dem Platzieren gefälliger Studien in Schulen und Medien. So wurde verhindert, dass bestehende chemische Stoffe ordnungsgemäß geprüft wurden. Stattdessen wurden in wichtigen Gesetzen wie dem „Toxic Substances Control Act“ von 1976 viele Substanzen einfach für sicher erklärt, ohne echte Tests. Die Behörden erhielten zu wenig Macht, um wirksam gegen gesundheitsschädliche Chemikalien vorzugehen. Besonders problematisch sind sogenannte perfluorierte Chemikalien, auch bekannt als PFAS oder »Forever Chemicals«.
Ursprünglich in der Herstellung von Produkten wie Teflon verwendet, sind diese Stoffe extrem langlebig, zersetzen sich praktisch nicht und reichern sich in Menschen, Tieren und Umwelt an. Interne Studien aus den 1960er und 1970er Jahren bei Herstellern wie DuPont und 3M zeigten damals bereits, dass PFAS gefährlich sind und schwerwiegende gesundheitliche Schäden verursachen können – etwa Fehlbildungen bei Babys, Krebs und hormonelle Störungen. Trotzdem unterdrückten Unternehmen diese Erkenntnisse oder setzten die Öffentlichkeit nicht darüber in Kenntnis. Folgen dieser Entwicklung sind heute allgegenwärtig. Untersuchungen belegen, dass synthetische Chemikalien im Blut von Menschen weltweit vorkommen, selbst in unberührten Regionen wie der Arktis oder abgelegenen Bergregionen.
Das Ökosystem leidet darunter, da sich PFAS und andere synthetische Stoffe im Wasser, Boden und in der Nahrungskette anreichern. Für die menschliche Gesundheit stellen sie ein langfristiges Risiko dar: Studien verknüpfen den Kontakt mit diesen Chemikalien mit erhöhtem Krebsrisiko, Immunschwäche, Fettstoffwechselstörungen, neurologischen Erkrankungen und Komplikationen in der Schwangerschaft. Dennoch ist die Regulierung nach wie vor unzureichend. Während einige Länder inzwischen versuchen, bestimmte synthetische Stoffe zu verbieten oder zu beschränken, sind viele dieser Chemikalien weiterhin in Alltagsprodukten zu finden. Das liegt auch daran, dass die Branche enorme wirtschaftliche Interessen verteidigt und neue, oft nicht ausreichend geprüfte Substanzen ständig auf den Markt bringt.
Die gesellschaftliche Wahrnehmung hingegen ändert sich zunehmend. Umweltbewegungen, Wissenschaftler und betroffene Bürger fordern mehr Transparenz, strengere Gesetze und einen verantwortungsvolleren Umgang mit Chemikalien. Dokumentationen, Bücher und Medienberichte sensibilisieren die Öffentlichkeit und zeigen, wie tief die Verflechtung von Wirtschaft, Politik und industriellem Fortschritt in diesem Bereich ist. Die Geschichte der synthetischen Chemikalien ist ein warnendes Beispiel dafür, wie Innovation ohne angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu langfristigen Problemen führen kann. Sie zeigt den Balanceakt zwischen technischem Fortschritt und dem Schutz von Umwelt und Gesundheit, der in Zukunft stärker im Mittelpunkt stehen muss.