Schach ist seit Jahrhunderten ein faszinierendes Spiel, das auf Strategie, Taktik und einem tiefen Verständnis der Figurenwerte beruht. Traditionell werden den Schachfiguren feste Werte zugewiesen: Der Bauer ist einen Punkt wert, Springer und Läufer jeweils drei, der Turm fünf und die Dame neun. Diese klassischen Werte sind nicht nur Lehrbuchwissen, sondern bilden auch die Grundlage für viele strategische Überlegungen und spielerische Entscheidungen. Doch wie exakt sind diese Werte tatsächlich, wenn man eine Partie in verschiedenen Stellungen betrachtet? Moderne Schachengines wie Stockfish ermöglichen heute eine wesentlich differenziertere Betrachtung, die zeigt, dass der „wirkliche“ Wert einer Figur durchaus variieren kann – und das je nach Position auf dem Brett, Stellung der Gegnerfiguren und Entwicklungsstand der Partie. Eine innovative Methode, die von Entwickler TotalNoob69 und seinen LiChess Tools ins Leben gerufen wurde, nutzt genau dieses Prinzip: Anstatt starrer Werte wird der Einfluss einzelner Figuren durch die Engine-Bewertung bestimmt, indem die Position erst mit allen Figuren und anschließend ohne eine bestimmte Figur bewertet wird.
Die Differenz zeigt den tatsächlichen Wert der jeweiligen Figur an – was eine völlig neue Perspektive auf die Wertigkeit der Schachfiguren eröffnet. Spannend ist dabei, dass diese Werte sich nicht nur von den klassischen Standards unterscheiden, sondern auch innerhalb einer Stellung stark schwanken können. So werden beispielsweise Rochade-Verbundenheiten und Bauernstrukturen berücksichtigt, was dazu führt, dass manche Bauern für die Stabilität einer Stellung viel wichtiger sind als andere. In der Anfangsstellung zeigt Stockfish, dass etwa die Königsflügeltürme und bestimmte zentrale Bauern deutlich höher bewertet werden als erwartet, während Bauern am Rand oder in passiven Positionen manchmal einen sehr geringen, fast vernachlässigbaren Wert besitzen. Das verdeutlicht bereits, dass die Rolle einer Figur oft entscheidender ist als ihr Klassenzimmer-Wert.
Besonders markant wird dies, wenn typische Eröffnungszüge gespielt werden, wie das populäre e4 des Weißen gefolgt von c5 durch Schwarz in der Sizilianischen Verteidigung. Die Figurenwerte verschieben sich, da neue Angriffspunkte, Verteidigungslinien und dynamische Chancen entstehen. Beispielsweise kann ein vormals hoch bewerteter Bauer durch einen Gegenzug an Wert verlieren, während Läufer oder Springer durch aktive Stellung und Angriffspotential an Bedeutung gewinnen. In komplexeren Stellungen, wie aus der bekanntesten Variante der Najdorf-Verteidigung des Sizilianers, zeigt sich, dass manche Bauern regelrecht an Wert verlieren, weil sie in der Partie kaum eine Rolle spielen. Besonders auffällig sind dabei Randbauern, die oft in der Schachtheorie als „unnütze“ oder gar „schwache“ Bauern gelten.
Doch auch schwarzen Bauern in diesen Stellungen gewinnen gelegentlich an Wert, wenn sie entscheidende Verteidigungsaufgaben übernehmen. Diese differenzierte Betrachtungsweise hilft, die Spielweise topklassiger Schachspieler besser zu verstehen und hinterfragt traditionelle Bewertungen, die Spieler manchmal zu sehr in eine feste Denke zwingen. Die tatsächliche Bedeutung einer Figur hängt stark von ihrer Position, von den möglichen taktischen und strategischen Plänen ab und lässt sich mit Hilfe von Stockfish nun auch numerisch besser erfassen. Die Methode kommt nicht nur bei Eröffnungen zum Einsatz, sondern auch in kritischen Mittelspiel- und Endspielpositionen, wo teilweise dramatische Wertverschiebungen auftreten. Puzzlestellungen, in denen die Verteidigung am seidenen Faden hängt, zeigen, dass einzelne Figuren plötzlich einen exorbitant hohen Wert erhalten – oft weit über die klassischen 9 Punkte einer Dame hinaus –, wenn ihr Fehlen unmittelbar Verlust oder Matt bedeutet.
Ein typisches Beispiel ist die Verteidigung gegen drohendes Matt, bei der das Entfernen einer einzigen Figur das Gleichgewicht vollständig zerstört. Solche Analysen verdeutlichen, dass der Wert einer Figur niemals als starr oder absolut verstanden werden sollte. Im Gegenteil verdeutlichen sie den dynamischen Charakter des Schachspiels: Jede Figur spielt eine Rolle im komplexen Geflecht aus Angriff, Verteidigung, Kontrolle von Feldern und strategischen Plänen. Die Anwendung dieser Engine-basierten Analyse in der LiChess Tools Browsererweiterung erlaubt Freunden des Spiels, tiefere Einblicke in ihre eigenen Partien zu gewinnen. Mit dem Befehl /piecevalue lassen sich in verschiedenen Partien und Stellungen die echten Werte der Figuren anzeigen, was eine ganz neue Lern- und Analyseerfahrung schafft.
Gleichzeitig bringt diese Art der Berechnung eine gewisse zeitliche und technische Herausforderung mit sich, da Stockfish bis zu einer Tiefe von 20 Halbzügen analysiert werden muss, um verlässliche Werte zu liefern. Dennoch ist der Aufwand lohnenswert, denn die Ergebnisse helfen, Verständnislücken zu schließen, Fehleinschätzungen zu vermeiden und das eigene Spiel zu verbessern. Die Vorstellung, dass einige Figuren in bestimmten Situationen fast „lebendig“ werden, ihren Wert dramatisch steigern oder ebenso schnell an Bedeutung verlieren können, führt zu einer neuen Wertschätzung der Figuren. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass diese dynamischen Werte nicht die absolute Spielstärke der Figuren ersetzen, sondern sie situativ bewerten. Ein Turm in einer offenen Linie kann zum Beispiel auf einmal eine ganz andere Rolle spielen als ein gleichfarbiger Läufer, der eingesperrt ist und kaum Einfluss hat.
Auch das Zusammenspiel der Figuren ändert deren Wert, denn manchmal liegt der Schlüssel zum Sieg im gezielten Figurenopfer, wenn dadurch ein ansonsten schwach bewerteter Bauer oder Springer an Bedeutung gewinnt. Die modernen Fortschritte in der Computerschach-Technologie revolutionieren so die Herangehensweise an Schachanalyse- und Spielverständnis. Spieler können mit Hilfe dieser differenzierten Methoden neue Hypothesen zur Strategie aufstellen oder unbekannte Positionseffekte entdecken. Dadurch wird die Schachwelt wieder ein Stück komplexer und spannender. Die traditionelle Einteilung mittels fester Punktwerte bleibt ein wichtiges Grundwissen, verlieren jedoch an Bindungskraft, wenn man sich intensiver mit der Stellung auseinandersetzt und die wahren Zusammenhänge erkennt.
Abschließend lässt sich sagen, dass die echte Wertigkeit von Schachfiguren viel stärker von der konkreten Spielsituation abhängt als lange angenommen. Die Verwendung von Stockfish und innovativen Tools wie LiChess Tools eröffnet neue Wege, um die vielschichtige Dynamik des Spiels besser zu erfassen und durch präzise Werte ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, warum manchmal das scheinbar kleine Bauerndörfchen oder der ungeliebte Randbauer plötzlich den Unterschied ausmachen kann. Schach ist ein Kunstwerk der Strategie, doch die wahre Magie zeigt sich erst, wenn der Wert jeder Figur in ihrem individuellen Kontext erkannt wird – und genau das ermöglicht die moderne Engine-Analyse auf beeindruckende Art und Weise.