Mit dem Aufkommen großer Sprachmodelle wie GPT-3 und GPT-4 hat sich die Landschaft der Softwareentwicklung und des Recruitings grundlegend gewandelt. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ihre Einstellungsverfahren an eine neue Realität anzupassen, in der das reine Beherrschen von Programmierkenntnissen nicht mehr ausreicht. Die Art und Weise, wie Kandidaten bewertet werden, entwickelt sich hin zu einer umfassenderen Betrachtung ihrer Fähigkeiten als Ingenieure – nicht nur als reine Codierer. Dieser Wandel hängt eng mit den Möglichkeiten zusammen, die LLMs heute bieten, aber auch mit den Risiken, die durch deren fehlerhafte oder unkritische Nutzung entstehen können. Die Anpassung des Recruiting-Prozesses an diese neue Ära erfordert ein ganzheitliches Umdenken und eine stärkere Fokussierung auf Problemlösungen, Systemverständnis und die Fähigkeit zu strategischem Denken.
Traditionell konzentrierte sich die Softwareindustrie bei der Einstellung stark auf technische Fertigkeiten wie das Schreiben von sauberem Code, Datenstrukturkenntnisse und algorithmische Problemlösung. Die klassischen Interviewfragen zielten auf das reine Programmierverständnis ab, mit oft streng vorgegebenen Aufgaben. Doch die Verfügbarkeit leistungsstarker KI-Tools verändert den Spielplatz. Kandidaten können auf einfache Weise komplexe Codebeispiele generieren lassen oder Hilfestellungen erhalten. Dadurch wird es immer schwieriger, die tatsächliche Kompetenz und das Verständnis der Bewerber zu beurteilen.
Infolgedessen verlagern viele Unternehmen ihren Fokus auf das, was häufig mit „Engineering Thinking“ beschrieben wird. Dieser Begriff umfasst die Fähigkeit, technische Herausforderungen ganzheitlich zu verstehen, Risiken abzuwägen, systemische Zusammenhänge zu durchdringen und nachhaltige Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln. Dabei spielt weniger die reine Code-Performance eine große Rolle, sondern vielmehr die Fähigkeit des Kandidaten, Entscheidungen zu treffen, Prioritäten zu setzen und technische Kompromisse zu erläutern. Hier gewinnt die Bewertung der systemweiten Auswirkungen von Designentscheidungen an Bedeutung: Wie skalierbar ist eine Lösung? Inwiefern ist sie wartbar? Welche Sicherheitsaspekte müssen berücksichtigt werden? Viele Recruiter und erfahrene Interviewer wissen heute, dass es nicht mehr sinnvoll ist, Kandidaten anhand von einfachen Programmieraufgaben zu testen. Stattdessen weicht das Interviewing einem diskursiven Ansatz, in dem Szenarien und Problemstellungen diskutiert werden, die ganz bewusst keine eindeutigen Antworten zulassen.
Es geht darum herauszufinden, wie Bewerber komplexe Sachverhalte analysieren, Prioritäten setzen und mit Unsicherheiten umgehen. Dies orientiert sich an der Wirklichkeit der Arbeit, denn Ingenieure müssen tagtäglich mit unvollständigen Informationen und widersprüchlichen Anforderungen umgehen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die sogenannte kulturelle Passung. Die Zusammenarbeit im Team, Kommunikationsfähigkeiten und der Umgang mit Feedback werden zunehmend wichtiger. Viele Unternehmen schätzen Bewerber, die offen und transparent über ihre Fähigkeiten und Grenzen sprechen können sowie Lernbereitschaft zeigen.
Ehrlichkeit und Bescheidenheit sind in einem Umfeld, in dem technologische Werkzeuge schnell wechseln, oft ausschlaggebender als das kurzfristige Wissen um eine bestimmte Technologie oder Programmiersprache. Die Fähigkeit, durch kontinuierliches Lernen und Anpassung zu wachsen, wird hoch bewertet. Einige Unternehmen setzen auch auf technische Interviews vor Ort, um sicherzugehen, dass Bewerber unter realen Bedingungen performen können. Dies wird teilweise als Gegenmaßnahme zum potenziellen Missbrauch von KI-gestützten Hilfsmitteln gesehen. Allerdings wird ebenfalls der Aufwand und die Kosten solcher Onsite-Interviews kritisch diskutiert, sodass viele Firmen alternative Methoden entwickeln, die z.
B. auf systemischem Denken, Risikoabsicherung und kommunikativer Fähigkeiten beruhen, ohne zwingend an einen Standort gebunden zu sein. Zudem beobachten Beobachter einen Trend dazu, Kandidaten während der Interviews auch bewusst mit KI-Tools arbeiten zu lassen. Die logische Schlussfolgerung ist, dass in der modernen Arbeitswelt niemand mehr programmiert, ohne auf Hilfsmittel zurückzugreifen. Das Testen der Fähigkeit, solche Werkzeuge effektiv und kritisch einzusetzen, steht im Vordergrund.
Der Fokus liegt weniger auf dem „wie exakt“ der Codegenerierung, sondern viel mehr auf dem „warum“ und „wofür“ eine Lösung entwickelt wird. Die Art, wie Bewerber Fragen stellen, iterative Verbesserungen durchführen und komplexe Probleme in Teilschritte zerlegen, gibt wichtige Hinweise auf ihre wahre Qualifikation. Unternehmen müssen lernen, Bewerber dahingehend zu bewerten, wie sie mit Unsicherheit und unvollständigen Informationen umgehen – Fähigkeiten, die schon immer zentral für Ingenieure waren, nun aber noch stärker in den Vordergrund rücken. Interviewer achten zunehmend darauf, ob Kandidaten Risiken erkennen, verschiedene Systemkomponenten miteinander abwägen und langfristige Auswirkungen ihrer Entscheidungen mitdenken. Es geht um die Frage, ob jemand nicht nur eine Aufgabe lösen kann, sondern ob er oder sie auch in der Lage ist, ein robustes und zukunftsfähiges System zu entwerfen.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Teamdynamik und die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Gute Ingenieure sind nicht jene, die in Interviews immer alle Fragen richtig beantworten, sondern solche, die vergangene Fehler offen kommunizieren und daraus lernen können. Die Selbsteinschätzung und die Bereitschaft, über Misserfolge zu sprechen, sind Zeichen für professionelle Reife und eine wesentliche Stärke. Nicht zuletzt verändert die flächendeckende Verfügbarkeit von LLMs auch die Erwartungshaltung an Mitarbeitende im Alltag. Statt sich in Details zu verlieren oder Zeit mit repetitiven Aufgaben zu verbringen, gewinnen Fähigkeiten wie Kreativität, strategische Planung und der Umgang mit komplexen Problemstellungen immer mehr an Bedeutung.