Schlangenbisse sind weltweit ein ernstzunehmendes Gesundheitsproblem und fordern jährlich Tausende von Todesopfern, besonders in ländlichen Gebieten mit begrenztem Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Behandlung solcher Bisse gestaltet sich schwierig, weil Antivenome bisher meist auf einzelne Schlangenarten spezialisiert sind und regional sehr unterschiedlich wirken. Genau an dieser Stelle setzt die bemerkenswerte Geschichte von Tim Friede an, einem autodidaktischen Schlangenexperten, dessen blutige Selbstexperimente eine bahnbrechende neue Entwicklung im Bereich der Antivenomforschung inspiriert haben. Tim Friede begann schon früh mit der Haltung von Giftschlangen und entwickelte mit der Zeit eine ungewöhnliche Methode, um Immunität gegen deren Gift aufzubauen. Zwischen 2005 und 2023 injizierte er sich selbst insgesamt 856 Mal mit unterschiedlichsten Schlangengiften.
Dieses riskante Vorgehen basierte darauf, dass er das Gift seiner eigenen Haustierschlangen sammelte, verdünnte und sich dann in kleinen Dosen verabreichte, um so seine Immunantwort zu trainieren. Seine experimentellen Selbstversuche wären beinahe tödlich geendet, als er innerhalb einer Stunde zwei Mal von einer Kobra gebissen wurde. Der Vorfall führte dazu, dass Friede mehrfach das Bewusstsein verlor und medizinisch reanimiert werden musste. Was für viele ein abschreckendes Erlebnis gewesen wäre, an dem sie ihr gefährliches Hobby beendet hätten, veranlasste Friede, seine Strategie zu überdenken und sein Immunisierungsprogramm sogar zu intensivieren. Die Kernidee hinter Friede's ungewöhnlichem Vorgehen ist die Stimulierung seiner B-Zellen, einer speziellen Art von weißen Blutkörperchen, die für die Produktion von Antikörpern verantwortlich sind.
Antikörper sind die natürlichen Abwehrstoffe des Körpers gegen fremde Toxine, wie Gift von Schlangenbissen. Indem er seinen Körper regelmäßig den speziellen Proteinen in den Giften aussetzte, erreichte er einen Zustand, in dem sein Immunsystem nahezu breit gegen viele Schlangengifte gewappnet war. Unter den Schlangen, denen Friede sein Immunsystem aussetzte, befanden sich einige der tödlichsten Arten der Welt, darunter ägyptische und Wasserkobras, die Küstentaipan, Mojave-Klapperschlangen und sogar schwarze Mambas. Solche Vielfalt im Gift machte sein Blut besonders wertvoll für die wissenschaftliche Forschung. Trotz der zweifelhaften Gefahren seiner Selbstversuche dokumentierte Friede seine Erfahrungen akribisch.
Die Videos seiner Bisse und der nachfolgenden Reaktionen des Körpers veröffentlichte er auf YouTube. Diese Dokumentationen zogen die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern weltweit auf sich, insbesondere von Immunologen wie Jacob Glanville, dem Geschäftsführer und Forscher der Biotech-Firma Centivax. Glanville und sein Team erkannten das immense Potenzial von Friede's hyperimmunem Blut und begannen, dessen Antikörper zu isolieren und auf ihre Wirksamkeit zu testen. Ziel war es, ein Antivenom zu entwickeln, das nicht wie herkömmliche Produkte nur gegen einzelne Giftarten wirkt, sondern vielmehr gegen eine breite Palette von Schlangengiften schützt. Traditionell werden Antivenome durch die Immunisierung von Schafen oder Pferden hergestellt, die mehrmals einem bestimmten Schlangengift ausgesetzt werden.
Die daraus gewonnenen Antikörper sind jedoch spezifisch für eine einzelne Schlangenart und wirken oft nur in begrenzten geografischen Regionen. Zudem besteht bei tierischen Antikörpern ein erhöhtes Risiko für allergische und immunologische Nebenwirkungen beim Menschen. Das aus Friede’s Blut isolierte Antivenom unterscheidet sich grundlegend von diesen herkömmlichen Produkten. Es beinhaltet menschliche Antikörper, die natürlicherweise durch das adaptierte Immunsystem eines Menschen entstanden sind, und ist deswegen viel verträglicher. Die Forscher konnten aus Friede’s Blut zwei Schlüsselantikörper extrahieren, die jeweils unterschiedliche Schlangengifte neutralisieren.
Der erste Antikörper, bezeichnet als LNX-D09, erwies sich als sehr wirksam gegen sechs getestete Schlangenarten. In Kombination mit dem Medikament Varespladib, das die Aktivität von bestimmten Gift-Faktoren hemmt, schützte das Mittel zusätzlich gegen drei weitere Arten. Ein zweiter Antikörper, SNX-B03, konnte sogar teilweise Schutz gegen alle 19 getesteten Schlangengifte bieten, die zu den gefährlichsten weltweit zählen. Somit erreichten Glanville und sein Team durch die Kombination von Antikörpern eine breite Neutralisation gegen die meisten Gifte der sogenannten Elapid-Schlangenfamilie, zu der unter anderem Kobras und Mambas gehören. Die Vorstellung eines universellen Antivenoms wurde so Schritt für Schritt immer mehr zu einer greifbaren Realität.
Peter Kwong, Biologe an der Columbia University, betont, dass dieser Durchbruch den Weg für ähnliche Entwicklungen bei der anderen wichtigen Giftschlangenfamilie, den Viperiden, ebnen könnte. Die Forschung geht weiter und es wird daran gearbeitet, die minimale effektive Kombination von Antikörpern zu bestimmen, die umfassenden Schutz gegen eine noch größere Bandbreite an Schlangengiften bieten kann. Bevor das neue universelle Antivenom allerdings klinisch am Menschen eingesetzt werden kann, stehen noch umfangreiche Tests an. Geplant sind unter anderem Feldversuche an Schlangenbiss-Patienten unter realen Bedingungen sowie Anwendungen in der Veterinärmedizin, zum Beispiel für in Australien gebissene Hunde. Zudem müssen Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlung im Rahmen klinischer Studien bestätigt werden.
Der medizinische und gesellschaftliche Nutzen eines solchen Produkts wäre enorm. Jährlich verletzen Schlangenbisse Millionen von Menschen weltweit, besonders in ärmeren Ländern mit mangelhafter Infrastruktur und wenig Zugang zu spezialisiertem medizinischem Equipment. Ein universelles Antivenom könnte das Leben vieler Betroffener retten, die heute oft ohne wirksame Behandlung auskommen müssen. Die Geschichte von Tim Friede zeigt eindrucksvoll, wie individuelle Leidenschaft und wissenschaftlicher Innovationsgeist zusammenkommen können, um ein globales Problem anzugehen. Obwohl seine Methoden extrem und gefährlich sind, eröffnet sein Körper einen einzigartigen Blick auf die Möglichkeiten der Immunisierung gegen vielfältige Schlangengifte.
Zukünftige Fortschritte in der Biotechnologie und Immunologie könnten das Ergebnis dieser Forschung weiter optimieren und möglicherweise zu einem weltweiten Standard in der Behandlung von Schlangenbissen machen. Ein universelles Antivenom wäre nicht nur ein medizinischer Meilenstein, sondern auch ein entscheidender Schritt im Kampf gegen eine der ältesten tödlichen Bedrohungen der Menschheit. Bis dahin bleibt die Arbeit der Wissenschaftler um Jacob Glanville und die ungewöhnliche Geschichte Tim Friedes ein leuchtendes Beispiel für die Kraft der Forschung, die selbst aus den ungewöhnlichsten Quellen neue Hoffnung schöpfen kann.