Das menschliche Bewusstsein zählt zu den größten Geheimnissen der Wissenschaft. Seit Jahrzehnten ringen Forscher darum zu verstehen, wie und wo in unserem Gehirn das Bewusstsein entsteht. Am 30. April 2025 veröffentlichte das renommierte Nature-Journal die Ergebnisse eines bahnbrechenden Experiments, das über sieben Jahre hinweg durchgeführt wurde und neue sowie überraschende Einblicke in den Ursprung des Bewusstseins gewährt. Dieses Experiment, initiiert vom Allen Institute, bringt frischen Wind in die Debatte zwischen zwei prominenten Theorien, die bisher den Diskurs dominierten: die Integrated Information Theory (IIT) und die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT).
Das Ziel der Forschung war es, diese konkurrierenden Theorien gegeneinander zu testen und tiefer zu ergründen, welches Modell der Realität unseres Gehirns am nächsten kommt.Die Integrated Information Theory, kurz IIT, postuliert, dass Bewusstsein genau da entsteht, wo sich Informationen innerhalb eines Systems – wie dem Gehirn – besonders stark, einheitlich und zusammenhängend verbinden. Nach dieser Vorstellung ist das bewusste Erleben das Ergebnis eines komplexen Netzwerks, das als Ganzes agiert und Informationen integriert. Die Theorie sieht das Bewusstsein nicht als Produkt einzelner Gehirnareale, sondern als emergente Kraft, die aus der Gesamtheit der neuronalen Verbindungen entsteht. Die Global Neuronal Workspace Theory dagegen konzentriert sich auf die Rolle bestimmter Hirnregionen, insbesondere der Vorderhirnrinde.
GNWT beschreibt ein neuronales Netzwerk, das wichtige Informationen selektiv hervorhebt, sie in das Bewusstsein bringt und breit im Gehirn verteilt, sodass diese Informationen für verschiedene kognitive Prozesse verfügbar werden – vergleichbar mit einem globalen Nachrichtennetzwerk.Diese beiden Modelle repräsentieren unterschiedliche Sichtweisen auf den Ursprung des Bewusstseins. Um den jahrzehntelangen Streit wissenschaftlich zu klären, schlossen sich 2018 Forscher aus verschiedensten Fachrichtungen in einem ambitionierten Kooperationsprojekt am Allen Institute zusammen. Diese „adversariale Kollaboration“ brachte 256 Probanden und modernste Technologien zusammen, um die Theorien an realen Gehirnreaktionen zu testen. Bei dem Experiment wurden den Teilnehmern verschiedene visuelle Reize gezeigt, während ihr Gehirn mit einer Kombination aus Magnetresonanztomographie (fMRT), Elektroenzephalographie (EEG) und funktioneller Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS) überwacht wurde.
So konnte die Aktivität und Vernetzung unterschiedlicher Hirnregionen in Echtzeit verfolgt werden.Die Ergebnisse der Studie sorgten für viel Aufsehen in der Wissenschaftsgemeinde. Entgegen den Erwartungen konnten weder die Integrated Information Theory noch die Global Neuronal Workspace Theory als alleinige Erklärung bestätigt werden. Die IIT vermutet eine starke Vernetzung und Informationsintegration im Hinterkopfbereich des Gehirns – dem visuell-sensorischen Cortex. Das Experiment jedoch zeigte, dass die Verbindungen in diesem Bereich nicht dauerhaft und intensiv genug sind, um als alleinige Quelle des Bewusstseins zu gelten.
Die GNWT hingegen legt den Fokus auf die Vorderhirnrinde als Ort, an dem Informationen bewusst gemacht werden. Auch hier lieferte der Versuch keine ausreichenden Beweise, dass dieser Bereich die alleinige Schaltzentrale des Bewusstseins ist.Das Forschungsergebnis öffnet ein neues Kapitel in der Wahrnehmung von bewusster Erfahrung. Insbesondere wurde festgestellt, dass eine funktionale Verbindung zwischen den frühst verarbeitenden visuellen Arealen und den Frontregionen des Gehirns existiert. Diese Verknüpfung beschreibt eine Brücke zwischen Wahrnehmung und Gedanken.
Daraus lässt sich ableiten, dass das Bewusstsein mehr mit dem „Sein“ zu tun hat – mit dem Erleben und Wahrnehmen – während Intelligenz stärker auf „Tun“ – auf Gedankenprozess und Planung – bezogen ist. Dies stellt viele bisher gängige Annahmen über die Rolle der präfrontalen Hirnrinde infrage, die lange als Sitz des Bewusstseins angesehen wurde.Die Implikationen dieser Erkenntnisse gehen weit über das Grundverständnis des Bewusstseins hinaus. Sie bieten wichtige Ansätze für die neurologische Medizin, zum Beispiel bei der Behandlung und Diagnose von Bewusstseinsstörungen wie dem Koma oder dem vegetativen Zustand. Aktuelle Studien schätzen, dass etwa ein Viertel der Patienten in sogenannten unansprechbaren Zuständen eine „versteckte“ oder „covert“ Form von Bewusstsein besitzt, die klinisch nicht ohne Weiteres zu erkennen ist.
Bessere Hinweise auf die neuronalen Mechanismen des Bewusstseins könnten helfen, diese Zustände bei schwerverletzten Patienten aufzudecken und somit bessere Therapieentscheidungen zu treffen.Der wissenschaftliche Erfolg dieses Projekts ist auch ein Paradebeispiel für die Vorteile von großer Zusammenarbeit und transparenter Forschung. Die Forschenden folgten einem offenen Wissenschaftsansatz, bei dem unterschiedliche Forschungsteams kritisch, aber kooperativ zusammenarbeiteten. Diese Art von „freundlichem Wettbewerb“ könnte auch in anderen biomedizinischen Bereichen neue Impulse setzen und die Entwicklung innovativerer Modelle und Behandlungsmethoden fördern.Obwohl das Experiment keine der beiden großen Theorien endgültig widerlegte oder bestätigte, liegen die Erkenntnisse deutlich in der Nuance und Komplexität des bewussten Erlebens.
Sie zeigen, wie schwierig es ist, einfache Erklärungen für ein so vielschichtiges Phänomen wie das Bewusstsein zu liefern. Zugleich verdeutlichen die Daten, dass neue Modelle, vielleicht solche, die Elemente beider Theorien integrieren oder gänzlich neue Ansätze verfolgen, dringend notwendig sind.In der Zukunft wird die Kombination aus fortschrittlicher Neurotechnologie, interdisziplinärer Zusammenarbeit und großer Probandenzahl den Weg ebnen für noch präzisere Studien. Solche Forschungen könnten die jahrzehntelange Debatte über den Ort und die Funktionsweise des Bewusstseins voranbringen und tiefere Einsichten ermöglichen. Ein besseres Verständnis des Bewusstseins wäre nicht nur ein Meilenstein der Neurowissenschaften, sondern könnte auch ethische, philosophische und medizinische Fragestellungen stark beeinflussen.
Zusammenfassend zeigt das neue Experiment des Allen Institute, dass unser Bewusstsein sich nicht leicht in feste Rahmenbedingungen pressen lässt. Sowohl die Idee eines global vernetzten Integrationssystems als auch die eines neuronalen Broadcast-Netzwerks tragen Teilaspekte der Wirklichkeit in sich, doch keine Theorie reicht allein aus. Das komplexe Zusammenspiel von neuronalen Netzwerken, ihrer Dynamik und funktionalen Verbindungen zwischen Wahrnehmung und Kognition macht das Bewusstsein zu einem weiter grenzüberschreitenden Forschungsfeld. Forscher weltweit sind durch diese Erkenntnisse ermutigt und motiviert, mit neuen Methoden und frischen Konzepten der Lösung eines der tiefgründigsten Mysterien der Menschheit entgegenzugehen.