Der Zeitpunkt, zu dem ein Kind das Laufen beginnt, gilt als wichtiger Meilenstein der frühkindlichen Entwicklung und liefert nicht nur Einblicke in motorische Fähigkeiten, sondern auch in die zugrundeliegenden neurologischen Prozesse. Eine kürzlich veröffentlichte Meta-Analyse, bei der die Gene von über 70.000 Säuglingen europäischer Abstammung untersucht wurden, liefert für das erste Mal belastbare genetische Einblicke in die Variabilität dieses bedeutenden Entwicklungsschritts. Die Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven für das Verständnis von körperlicher und geistiger Entwicklung im Säuglingsalter und das Potenzial, frühzeitige Entwicklungsauffälligkeiten besser zu erkennen und zu behandeln. Das Alter des ersten selbstständigen Gehversuchs (Age of Onset of Walking, kurz AOW) variiert bei Kindern erheblich und liegt meist zwischen 8 und 18 Monaten.
Dieses Zeitfenster ist klinisch relevant, da eine verspätete motorische Entwicklung beispielsweise auf neurologische Störungen, Verzögerungen in der Muskelentwicklung oder andere gesundheitliche Probleme hinweisen kann. Nationale Leitlinien in Ländern wie Großbritannien und den USA setzen das Gehen bis zum 18. Monat als wichtigen Referenzpunkt. Jedoch stehen Forscher vor der Herausforderung, die zugrunde liegenden Ursachen für die Spannbreite beim Gehbeginn zu verstehen: Sind es vor allem Umweltfaktoren wie Ernährung, kulturelle Praktiken oder genetische Einflüsse, die das Timing bestimmen? Die Studie liefert hierzu wichtige Antworten. Die Meta-Analyse vereinte Daten aus vier großen europäischen Kohorten, darunter das norwegische Mother, Father and Child Cohort Study (MoBa), den Netherlands Twin Register, die Lifelines-Studie in den Niederlanden und die britische National Study for Health and Development.
Diese umfassende Stichprobe mit über 70.000 Kindern erlaubte eine genomeweite Assoziationsuntersuchung (Genome-wide Association Study, GWAS), die bedeutende genetische Varianten mit dem Alter des Gehbeginns verknüpft. Insgesamt wurden elf unabhängige genetische Loci identifiziert, die das AOW beeinflussen und bisher unbekannte Einblicke in die genetische Architektur der motorischen Entwicklung ermöglichen. Ein Schlüsselbefund betrifft die Rolle des Gens RBL2. Dieses Gen, an dem eine spezifische Variante (SNP rs16952251) identifiziert wurde, spielt eine entscheidende Rolle bei der neuronalen Entwicklung und wurde bereits mit seltenen neurologischen Syndromen in Verbindung gebracht, bei denen es zu hypotone Muskeln und schweren Entwicklungsverzögerungen kommt.
Die Meta-Analyse zeigte, dass bestimmte Varianten von RBL2 im Gehirn exprimiert werden und direkt mit dem Zeitpunkt des Gehbeginns korrelieren. Diese Erkenntnisse wurden durch weiterführende molekulare Untersuchungen bestätigt, die eine funktionelle Verbindung zwischen genetischer Variation und Genexpression im Hirngewebe belegten. Die Studie belegte zudem, dass etwa ein Viertel (24,1%) der Variation im AOW durch genetische Faktoren erklärbar ist – ein hoher Wert für ein komplexes, entwicklungsbiologisches Merkmal. Dabei sind wohl mehrere tausend genetische Varianten beteiligt, was auf eine hohe Polygenität hindeutet. Diese Komplexität spiegelt wider, dass der Gehbeginn nicht durch einzelne Gene, sondern durch das Zusammenspiel vieler genetischer Einflüsse bestimmt wird.
Interessant ist auch die genetische Korrelation zwischen dem Gehbeginn und verschiedenen weiteren physischen und kognitiven Merkmalen. So korrelierte ein späterer Gehbeginn genetisch negativ mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und einem höheren Body-Mass-Index (BMI) im Kindes- und Erwachsenenalter. Dies deutet darauf hin, dass Kinder, deren genetisches Profil einen späteren Gehbeginn vorhersagt, weniger Risiken für ADHS oder Fettleibigkeit aufweisen könnten. Andererseits fand sich eine positive genetische Korrelation mit kognitiven Leistungen und Bildungsniveau, was nahelegt, dass eine etwas spätere motorische Entwicklung mit einer besseren kognitiven Entwicklung verknüpft sein kann. Auch die Analyse der Gehirnstruktur lieferte aufschlussreiche Ergebnisse: Die genetischen Einflüsse auf das AOW zeigten eine Verbindung zur komplexen Organisation und Faltung der Großhirnrinde (Gyrifikation) in motorisch relevanten Hirnregionen sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen.
Die Fähigkeit, später zu laufen, ist somit mit einer höheren Komplexität bestimmter Hirnregionen assoziiert. Ferner konnte ein polygenetischer Score, der aus den identifizierten genetischen Varianten berechnet wurde, die Variabilität im AOW bis zu fünf Prozent vorhersagen. Diese Vorhersagekraft blieb auch intra-familiär erhalten, was bedeutet, dass der genetische Einfluss direkt auf das Individuum wirkt und nicht nur durch Umweltfaktoren oder elterliche Einflüsse vermittelt wird. Die Verbindung zwischen einem genetisch beeinflussten späten Gehbeginn und größeren Volumina bestimmter Gehirnareale bei Neugeborenen, etwa im Basalganglien- und Kleinhirnbereich, verstärkt das Bild einer biologischen Grundlage motorischer Entwicklung. Diese Areale sind zentral für Bewegungskontrolle und Koordination.
Die Ergebnisse sprechen dafür, dass Unterschiede im Zeitpunkt des Gehbeginns durch Projekte beeinflusst werden, die sich bereits im Gehirnvolumen und der Hirnorganisation im frühen Leben manifestieren. Aus klinischer Sicht bieten diese Erkenntnisse neue Prognose- und Interventionsmöglichkeiten: Durch die Integration von genetischem Wissen könnten Frühindikatoren für motorische Entwicklungsstörungen präziser herausgefiltert werden. Der polygenetische Score für den Gehbeginn könnte zukünftig helfen, Kinder, die später als üblich laufen lernen, besser einzuordnen – ob es sich um eine normale Variante der Entwicklung handelt oder ob ein erhöhtes Risiko für neurologische oder kognitive Probleme besteht. Zudem zeigt die Forschung, dass sowohl früh als auch spät laufende Kinder genetische Signale aufweisen, die mit späteren neuropsychiatrischen Bedingungen wie ADHS verknüpft sein können – damit könnte das Augenmerk künftig auch auf früher ansetzende Screening-Methoden erweitert werden. Die Studie unterstreicht ebenso die Notwendigkeit, den Einfluss von Umweltfaktoren wie Kultur, Ernährung und körperlicher Aktivität im Zusammenspiel mit genetischen Determinanten zu untersuchen, um ein ganzheitliches Bild der kindlichen Entwicklung zu erhalten.
Bereits heute wird angenommen, dass beispielsweise kulturelle Unterschiede in der Förderung motorischer Fertigkeiten das Timing des Gehbeginns beeinflussen können. Die genetischen Grundlagen bilden jedoch eine wichtige Basis, auf der diese äußeren Faktoren aufbauen. Ein wichtiger Limitation der Studie ist, dass aktuell nur Daten europäischer Abstammung ausreichend verfügbar waren, um eine solide genetische Analyse durchzuführen. Dies unterstreicht die Dringlichkeit, genetische Untersuchungen in vielfältigeren Bevölkerungsgruppen durchzuführen, um globale Erkenntnisse zu erlangen und gesundheitliche Ungleichheiten zu adressieren. Abschließend zeigt die groß angelegte Meta-Analyse, dass das Alter beim selbstständigen Gehen ein komplexes polygenes Merkmal ist, das tief mit der neurologischen Entwicklung und anderen psychischen sowie physischen Gesundheitsdimensionen verflochten ist.
Die genetische Entschlüsselung dieses Meilensteins öffnet neue wissenschaftliche und klinische Wege, motorische Entwicklungsprozesse besser zu verstehen und zu unterstützen. Langfristig könnten diese Erkenntnisse dazu beitragen, präventive Maßnahmen und personalisierte Therapien zu entwickeln, die das Potenzial jedes Kindes optimal fördern.