Amedeo Modigliani zählt zu den einflussreichsten Künstlern der Moderne. Seine unverwechselbaren Porträts und Aktdarstellungen sind heute Bestandteil renommierter Sammlungen und erzielen auf Auktionen enorm hohe Preise. Trotz seiner Berühmtheit und des umfangreichen Interesses an seinem Werk bleibt das Gesamtbild seiner Gemälde unvollständig. Anders als bei vielen anderen weltberühmten Malern existieren für Modigliani nicht nur ein, sondern gleich mehrere Kataloge raisonnés, die seine Arbeiten katalogisieren. Dieses Mehrfachvorhandensein erschwert die eindeutige Zuordnung seiner Werke und lässt die Anzahl der tatsächlichen Gemälde unter Unsicherheit leiden.
Vor allem stellt sich die Frage, wie viele Modigliani-Gemälde bislang unbekannt oder falsch zugeordnet sind und wie viele vermeintliche Werke möglicherweise Fälschungen darstellen. Zur Beantwortung einer solchen Frage kommt die Methode der Multiple Systems Estimation (MSE) ins Spiel, eine statistische Technik, die ursprünglich aus der Ökologie stammt und mittlerweile in diversen Disziplinen wie Epidemiologie, Demographie und sogar Kunstgeschichte Anwendung findet. MSE nutzt mehrere unvollständige Listen einer Population, hier in Form von Katalogen, um die Gesamtgröße dieser Population zu schätzen – in diesem Fall die Zahl der unbekannten Originalgemälde Modiglianis. Die Herausforderung, vor der Kunsthistoriker und Statistiker gleichermaßen stehen, ist immens. Fünf etablierte Kataloge (Pfannstiel, Lanthemann, Ceroni, Patani und Parisot) listen jeweils eine Vielzahl von Gemälden, jedoch stimmen die Werke in den verschiedenen Verzeichnissen oft nicht vollständig überein.
Hinzu kommen neuere, noch unveröffentlichte Kataloge. Die mangelnde Einigkeit macht eine direkte Schätzung der Gesamtzahl nahezu unmöglich. Die Kreuzklassifikation, also die Abgleichung der Erscheinungen einzelner Werke in den verschiedenen Katalogen, erweist sich ebenfalls als schwierige Aufgabe, nicht zuletzt wegen unterschiedlicher Bezeichnungen, der Abgrenzung von Zeichnungen und Gemälden sowie dem teilweise fehlenden Bildmaterial. Das ermöglichte aber die Bildung einer Datenbasis, mit der statistische Modelle angestellt werden konnten. Multiple Systems Estimation stößt dabei an methodische Grenzen, etwa bei der Annahme, dass die einzelnen Listen unabhängig voneinander sind oder die Wahrscheinlichkeit, ein Werk in einem Katalog zu finden, für alle Werke homogen ist.
Hier helfen komplexere log-lineare Modelle und moderne bayesianische Verfahren, die auch Unsicherheiten und Abhängigkeiten miteinbeziehen. Dabei ist es entscheidend, nicht nur auf klassische Herangehensweisen zu setzen, sondern auch innovative Methoden wie den Bayesian Non-Parametric Latent Class Model (NPLCM) einzusetzen, der durch flexible Clusterbildung Überlagerungen in den Erfassungen besser abbilden kann und keine rigiden Interaktionsannahmen benötigt. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Berücksichtigung von Fälschungen. Der Modigliani-Markt galt lange als ein Eldorado für Fälscher, was die Zuverlässigkeit der Kataloge weiter infrage stellt. Die Integration förderlicher Szenarien zur Berücksichtigung von Fälschungen, etwa indem mit Wahrscheinlichkeiten für Fakes auf einzelnen Listen gearbeitet wird, ermöglicht eine realistischere Einschätzung der Dunkelziffer unbekannter Originale.
Überraschenderweise zeigen Sensitivitätsanalysen, dass die Anwesenheit von Fälschungen tendenziell dazu führt, dass die Schätzungen für die Anzahl unbekannter Gemälde sinken. Dies ist insofern hilfreich, da es vermuten lässt, dass aktuelle Schätzungen eher als obere Schranken zu verstehen sind. Die Modellierung ergab, dass die Anzahl der bisher unbekannten Modigliani-Gemälde im Bereich von 20 bis knapp 120 liegt. Diese Bandbreite ist zwar groß, reflektiert aber sowohl die Unsicherheiten in den zugrundeliegenden Daten als auch die komplexe Dynamik durch Überlappungen und Fälschungen. Ein weiterer spannender Aspekt ist die Varianz der Schätzungen zwischen Modellen, die mit verschiedenen Informationskriterien wie AIC oder BIC ausgewählt wurden.
Diese Varianz zeigt die inhärente Schwierigkeit in der Modellwahl bei MSE. Ein noch breiteres Verständnis lässt sich durch Modellmischungen oder bayesianische Ansätze gewinnen, die weniger stark von einer einzelnen Modellauswahl abhängen. Zweckmäßig ist es zudem, Kataloge mit vermeintlich schlechterer Verlässlichkeit auszuschließen oder separat zu analysieren, wie etwa die Pfannstiel- oder Lanthemann-Kataloge, da ihre Inhomogenität die Schätzung merklich beeinflussen kann. Über die Methodik hinaus wirft die Anwendung von MSE in der Kunst historische und kulturelle Fragen auf. Die oftmals zerrüttete Provenienz vieler Werke, das unstete Leben Modiglianis und der Umgang früherer Besitzer mit seinen Gemälden – wie das Verschenken oder Verpfänden gegen Mietschuld – verdeutlichen die Schwierigkeit klassischer Authentifizierung.
Wo Kunsthistoriker also mit Katalogen kämpfen, schafft MSE einen quantitativen Zugang, der auf Wahrscheinlichkeiten beruht. Damit ist die Methode ein wertvolles Hilfsmittel, um das Ausmaß verloren gegangener, unbekannter oder misattributierter Kunstwerke abzuschätzen. Neben Modigliani lassen sich solche Ansätze auf andere Künstler übertragen, besonders jene, bei denen mehrere konkurrierende Kataloge existieren oder bei denen Fälschungen ein großes Problem sind. Renoir ist hier ein Beispiel. Doch es bleibt essentiell, die statistischen Ergebnisse nicht als absolute Wahrheit zu verstehen, sondern als ergänzende Orientierungshilfe bei der Bewertung von Künstlernachlässen.
Die Kombination aus kunsthistorischem Wissen, technologischer Untersuchung von Werken und quantitativer Analyse eröffnet neue Perspektiven für die Erforschung von Kunst und ihrer Geschichte. Mehr noch, MSE bietet einen innovativen Rahmen für andere Bereiche der Geisteswissenschaften, in denen fragmentarische oder überlappende Datenquellen die Größe von Populationen oder Sammlungen schätzen müssen. In der digitalen Ära, in der immer mehr Kunstwerke und Daten elektronisch erfasst werden, steigt die Relevanz solcher Methoden kontinuierlich. Die sorgfältige Berücksichtigung von Unsicherheiten, Fehlklassifikationen und Überlappungen ist dabei von zentraler Bedeutung. Zusammenfassend stellt die Anwendung von Multiple Systems Estimation auf die Werke Modiglianis ein spannendes Beispiel interdisziplinärer Forschung dar, in der Statistik und Kunstgeschichte fruchtbar zusammenwirken.
Die Schätzung der Anzahl unbekannter Gemälde bringt nicht nur Licht in ein von Unsicherheiten geprägtes Feld, sondern setzt auch Standards für zukünftige Untersuchungen im Kunstmarkt und darüber hinaus. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass trotz des intensiven Forschungs- und Sammelinteresses an Modigliani weiterhin eine bedeutende Anzahl Gemälde der Öffentlichkeit verborgen bleibt – ein faszinierendes Rätsel, das mit Hilfe moderner Statistik langsam entschlüsselt wird.