Der norwegische Frühjahrslaichhering gilt seit langem als eine der ikonischsten Fischarten des Nordatlantiks. Seine wandernden Schwärme prägen nicht nur das maritime Ökosystem, sondern sind auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für lokale Fischereigemeinschaften. Doch neue Forschungen zeigen, dass durch den Einfluss des Menschen bedingt eine dramatische Veränderung in den Wander- und Laichgewohnheiten dieser Heringe stattgefunden hat, die weitreichende Folgen für Umwelt und Fischerei mit sich bringt. Eine Verschiebung um etwa 800 Kilometer in Richtung Norden signalisiert nicht nur eine geografische Veränderung, sondern offenbar auch einen Verlust an sogenannter kollektiver Erinnerung, die für die Navigation und das Überleben der Art essenziell ist. In einer bahnbrechenden Studie, die von einem Forscherteam des Instituts für Meeresforschung in Norwegen geleitet wurde, analysierten Wissenschaftler umfassende Datensätze aus mehreren Jahrzehnten, um herauszufinden, wie sich durch altersselektiven Fischfang die traditionellen Wanderungsrouten und Laichgründe des norwegischen Frühjahrslaichherings verändert haben.
Diese Art zeichnet sich dadurch aus, dass erfahrene, ältere Fische ihre sogenannten „kollektiven Erinnerungen“ – also etablierte Migrationsrouten und Laichplätze – an jüngere Generationen weitergeben. Dieses kulturelle Lernen, auch als Entrainment bezeichnet, ist bei wandernden Fischpopulationen ein entscheidender Mechanismus für die Weitergabe von Überlebensstrategien. Der Begriff der kollektiven Erinnerung bei Heringen beschreibt die Fähigkeit der älteren Generation, durch ihr Verhalten und ihre Migrationserfahrungen die Orientierung jüngerer Fische zu beeinflussen. Normalerweise ziehen die nordnorwegischen Heringe vom Wintergebiet im hohen Norden etwa 1300 Kilometer südwärts bis zu den Laichgebieten an der westlichen Küste Norwegens, in die Region Møre. Diese lange Wanderung soll die Balance zwischen energetischen Kosten und dem Vorteil höherer Larvenüberlebensraten in südlicheren Gewässern darstellen.
Die Wissenschaftler sammelten Daten von 1995 bis 2024, wobei sie eine Vielzahl von Quellen nutzten: Fischereiaufzeichnungen aus Norwegen, Island und den Färöern, akustische Trawl-Studien und moderne Tagging-Technologien mit Passive Integrated Transponder (PIT). Damit konnten unter anderem Rückmeldungen von über 200.000 markierten Heringen ausgewertet werden. Ein signifikanter Rückgang älterer Fische, vor allem seit 2019, führte zur Fragmentierung der traditionellen Migrationsrouten. Die Biomasse der älteren Laichfische reduzierte sich um mehr als die Hälfte, von rund 4 Millionen Tonnen auf knapp über 1 Million Tonnen binnen weniger Jahre.
Diese altersselektive Fischerei entfremdete die jungen Heringe von den erprobten Routen, da es nur noch wenige erfahrene Tiere gab, die neues Wissen hätten weitergeben können. Folglich begannen die jüngeren Kohorten einen neuen Weg einzuschlagen. Seit 2016 zeichnet sich ab, dass die Heringe ihre Laichgebiete Richtung Norden verlagern und nun verstärkt in der Region rund um die Lofoten laichen – etwa 800 Kilometer weiter nördlich als historisch üblich. Die Daten der akustischen Trawl-Studien, die zwischen 2018 und 2024 jährlich durchgeführt wurden, belegen dieses Phänomen eindrucksvoll. Während sich das Muster der älteren Population zum Teil stabil zeigte, wandelte sich die Migration der jungen Kohorten von Jahr zu Jahr.
Die neue Route ist nicht nur eine Anpassung an den Verlust sozialer Orientierung, sondern könnte auch mit veränderten Umweltbedingungen wie Wassertemperaturen und Beuteverfügbarkeit korrespondieren. Die Verschiebung der Laichgebiete hat mehrere ökologische und wirtschaftliche Implikationen. Ökologisch könnte die veränderte Verteilung der Laichplätze die Struktur der Küsten-Nahrungsnetze beeinflussen. Die frisch geschlüpften Larven finden sich in neuen Habitaten wieder, was die Zusammensetzung der Fischfressenden Arten und deren Nahrungsverfügbarkeit beeinflussen kann. Auch die südlicheren Gebiete, wie das bisherige traditionelle Laichareal bei Møre, könnten einer verringerten Nährstoffversorgung und Beutebasis ausgesetzt sein, was Kaskadeneffekte in der gesamten marinen Biologie nach sich ziehen kann.
Aus wirtschaftlicher Sicht bedeutet eine so große Verschiebung der Laichgebiete neue Herausforderungen für Fischereibetriebe. Fanggebiete müssen neu angepasst werden, und lokale Gemeinschaften könnten erhebliche Verluste erleiden, falls sich die Heringpopulationen dauerhaft in entfernteren Regionen etablieren. Die traditionelle Fischerei und die damit verbundenen Arbeitsplätze sind dadurch gefährdet. Zudem erschwert die Fragmentierung der Migration eine nachhaltige Bewirtschaftung des Bestands, da historische Modelle der Bestandsdynamik neu bewertet werden müssen. Ein weiterer Facette des Problems ist die Schwierigkeit, den historischen Zustand wiederherzustellen.
Sobald ein neuer Wanderweg etabliert und durch kollektive Migrationserinnerungen verstärkt wird, gilt dieser als schwer rückgängig zu machen. Die kulturellen Prägungen, die durch den Mangel an älteren Fischen verloren gegangen sind, lassen sich kaum künstlich rekonstruieren. Dies unterstreicht die Bedeutung von Schutz- und Managementmaßnahmen, die altersselektiven Fischfang stark begrenzen und den Erhalt älterer Exemplare fördern. Die Studie wirft das Licht auf eine bislang unterschätzte Dimension menschlicher Einflüsse auf Fischpopulationen – den Verlust der kollektiven Kultur der Migration. Anders als bei rein genetischen Veränderungen handelt es sich hier um eine soziale Dysfunktion, die nur durch direkte Interaktionen zwischen verschiedenen Altersgruppen und Generationen verhindert werden kann.
Kollektives Lernen ist nicht nur bei Säugetieren wie Walen oder Vögeln bekannt, sondern spielt auch bei Fischen eine entscheidende Rolle für das Überleben und die Fitness der Population. Die Entwicklungen im norwegischen Frühjahrslaichhering könnten auch als Warnsignal für andere wandernde Fischarten dienen. Arten mit vergleichbaren Sozialmechanismen und kultureller Weitergabe von Migrationsrouten könnten ähnlich gefährdet sein, insbesondere wenn Fangmethoden oder Umweltveränderungen die Interaktion zwischen erfahrenen und unerfahrenen Fischen unterbinden. Diese Forschungsarbeit unterstreicht die Notwendigkeit eines integrativen Fischereimanagements, das nicht nur auf maximalen Fangmengen basiert, sondern auch die Bewahrung sozialer Strukturen und Verhaltensweisen berücksichtigt. Aktuelle Fischereiregelungen müssen dahingehend angepasst werden, dass sie den Fortbestand der Kultur innerhalb der Fischbestände schützen und so langfristig stabile Populationen sichern.