Indigene Sprachen sind nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch Träger von Geschichte, Kultur und Identität ganzer Gemeinschaften. Doch im Angesicht von Kolonialisierung, Globalisierung und erzwungener kultureller Assimilation sind viele dieser Sprachen stark vom Aussterben bedroht. Experten schätzen, dass weltweit rund 3.000 Sprachen in naher Zukunft verschwinden könnten. In Kanada beispielsweise befindet sich keine indigene Sprache mehr in sicherer Lage, alle stehen an verschieden stark gefährdeten Punkten ihrer Existenz.
Die drängende Frage lautet daher: Welche Rolle kann Künstliche Intelligenz (KI) beim Schutz und der Wiederbelebung dieser Sprachen spielen? Der rasante Fortschritt der KI-Technologien eröffnet neue Perspektiven, um diese Herausforderung anzugehen und indigene Sprachen sowohl in die digitale Welt zu integrieren als auch für zukünftige Generationen zu erhalten. Viele KI-Anwendungen konzentrieren sich bislang hauptsächlich auf global dominierende Sprachen wie Englisch, Spanisch oder Chinesisch. Laut dem Weltwirtschaftsforum basieren die meisten großen Sprachmodelle nur auf etwa 100 Sprachen von den weltweit etwa 7.000 existierenden. Diese Sprachverzerrung führt dazu, dass der Großteil indigener und weniger verbreiteter Sprachen bei der Entwicklung von KI-Tools übersehen wird.
Gleichzeitig kann KI eine wichtige Brücke schlagen, um weniger verbreitete Sprachen durch innovative Technologie zugänglicher zu machen. Ein bemerkenswertes Beispiel stammt von Michael Running Wolf, einem Computertechniker der Northern Cheyenne. Er entwickelte ein Gerät in Form einer Zedernholzkiste, das die Eigenschaften moderner Sprachassistenten wie Alexa oder Google Home mit der Kultur und Tradition verbindet. Dieses „Sprach-in-einer-Box“-Projekt setzt auf Edge-KI, die offline funktioniert und Sprachlernende durch Interaktivität bei Aussprache und Sprachfluss unterstützt. Gerade in Situationen mit wenigen verbleibenden Muttersprachlern ermöglicht diese Technik eine neuartige Form der mündlichen Sprachübermittlung – ein Aspekt von enormer Bedeutung für indigene Gemeinschaften, bei denen die Tradition des mündlichen Erzählens zentral ist.
Ein entscheidendes Prinzip hinter solchen Technologien ist die Indigene Datensouveränität – das Recht der Gemeinschaften auf Kontrolle und einvernehmliche Nutzung ihrer sprachlichen und kulturellen Daten. Nur wenn diese Bedenken ernst genommen werden, kann ein nachhaltiger und respektvoller Einsatz von KI-Technologie erfolgen. Auch international gibt es innovative Initiativen, die KI gezielt für den Erhalt indigenen Sprachguts einsetzen. In den Philippinen entwickelte Anna Mae Yu Lamentillo die App NightOwlGPT, die KI-gestützte Übersetzungen für mehrere gefährdete indigene Sprachen ermöglicht. Ihr Ziel ist es, dass diese Sprachen genauso digital präsent und zugänglich werden wie die dominanten Landessprachen.
Dabei warnt sie jedoch vor den Gefahren einer unreflektierten KI-Nutzung, die bestehende Ungleichheiten und koloniale Strukturen sogar noch verstärken könnte. Wenn nur eine kleine Minderheit von Sprachen in der digitalen Welt Aufmerksamkeit findet, kann dies einer neuen Form kultureller Dominanz gleichkommen. Die Demokratisierung von KI ist daher nicht nur eine technische, sondern vor allem eine gesellschaftliche und politische Herausforderung. In Afrika arbeiten Sprachwissenschaftler und Technikexperten daran, mit offenen Plattformen wie Mozilla’s Common Voice multilinguale Datensätze zusammenzutragen. Hier liegt die Schwierigkeit neben der sprachlichen Vielfalt insbesondere in der Vielfalt der Dialekte und der fehlenden Standardisierung von Schriftformen.
Seit Jahrhunderten wurden afrikanische Sprachen durch koloniale Maßnahmen und die Aufdrängung einheitlicher Sprachideale in ihrer Vielfalt eingeschränkt. Diese Komplexität stellt KI-Entwickler vor besondere Herausforderungen: Wie kann die Technologie fair und korrekt mit Variationen und unterschiedlichen Schreibweisen umgehen? Wie lässt sich zugleich sicherstellen, dass lokale Gemeinschaften in den Entwicklungsprozess eingebunden bleiben? Ein zentraler Aspekt ist der Aufbau von Trainingsdaten für sprachbasierte KI-Modelle. Diese Daten müssen hochwertig und repräsentativ sein und das Wissen indigener Sprecherinnen und Sprecher berücksichtigen. Ohne ausreichende und aussagekräftige Datengrundlagen können selbst die fortschrittlichsten KI-Systeme nicht effektiv oder respektvoll mit diesen Sprachen umgehen. Zudem spielt die Finanzierung eine wichtige Rolle für nachhaltige Projekte.
Sprachschutz erfordert langfristiges Engagement, das weit über einmalige Investitionen hinausgeht. Nur so können notwenige Forschungs- und Entwicklungsarbeiten realisiert und funktionale Anwendungen geschaffen werden, die den Bedürfnissen der Indigenen gerecht werden. Die Akzeptanz und aktive Mitgestaltung durch die betroffenen Gemeinschaften ist ein weiterer Schlüsselfaktor. KI-Anwendungen können nur dann wirklich hilfreich sein, wenn sie auf kulturelle und soziale Kontexte zugeschnitten sind und sowohl Lehrer als auch Lernende einbinden. Hierbei bedeutet Sprache nicht nur das gesprochene Wort, sondern umfasst auch Geschichten, Lieder, traditionelle Wissenssysteme und Rituale – all das ist untrennbar verbunden.
Neben der reinen Technologie sollte daher auch die ethische Dimension verstärkt in den Fokus rücken. Fragen nach Machtverhältnissen, Datenhoheit und Zugangsrechten müssen transparent und gemeinsam geklärt werden. Andernfalls droht die Gefahr, dass KI als neues Werkzeug kolonialer Praktiken missbraucht wird. Der Schutz indigener Sprachen durch KI ist somit eine weitreichende gesellschaftliche Aufgabe, die Technik, Kultur und Politik miteinander verbindet. Die Integration von KI im Sprachschutz bietet große Chancen, Vielfalt zu erhalten, kulturelles Erbe zu fördern und die digitalen Barrieren für marginalisierte Gruppen abzubauen.
Gleichzeitig erfordert sie Sensibilität, Respekt und die proaktive Beteiligung der indigenen Völker an der Technologieentwicklung. Die Zukunft der sprachlichen Vielfalt hängt davon ab, wie gut es gelingt, diese neuen Werkzeuge sinnvoll und verantwortungsvoll einzusetzen. Neben spezifischen Projekten und technologischen Innovationen muss stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung der sprachlichen Kulturvielfalt geschaffen werden. Bildung, politische Unterstützung und internationale Kooperation spielen hier eine zentrale Rolle. Denn lediglich durch ein gemeinsames und respektvolles Handeln kann verhindert werden, dass wertvolle Sprachen für immer verloren gehen.
Insgesamt zeigt sich, dass Künstliche Intelligenz nicht zwangsläufig ein Faktor der Sprachunterdrückung sein muss. Im Gegenteil können maßgeschneiderte, dekolonialisierte und inklusive KI-Projekte dazu beitragen, die Stimmen indigener Gemeinschaften auch im digitalen Zeitalter hörbar und lebendig zu halten. Die Sicherung und Förderung indigener Sprachen ist somit Teil einer größeren Vision von globaler kultureller Gerechtigkeit und digitaler Teilhabe für alle Menschen.