In einer Zeit, in der die Digitalisierung und Online-Bildung zu zentralen Themen unserer Gesellschaft wurden, lohnt sich der Blick zurück auf die Ursprünge und Innovationen, die diesen Wandel einst ermöglicht haben. Ein Meilenstein in der Geschichte des computerbasierten Lernens ist das System PLATO – entwickelt an der University of Illinois in Urbana-Champaign. Die Entwicklung dieses Systems begann in den späten 1950er Jahren und markierte den Beginn einer vollkommen neuen Ära in der Lerntechnik und Computerkommunikation. PLATO steht für „Programmed Logic for Automated Teaching Operations“ und verbindet technologische Pionierarbeit mit einer visionären Idee: Bildung digital und personalisiert zugänglich zu machen. Von den frühen Experimenten in einem einzigen Klassenzimmer bis hin zur globalen Einführung auf über hundert Hochschulen weltweit hat PLATO eine beeindruckende Innovationsgeschichte hinter sich, die heute auf vielfältige Weise noch nachwirkt.
Die Ursprünge von PLATO sind eng mit der Epoche des Kalten Krieges verbunden. Die sogenannte Controls Systems Laboratory der University of Illinois hatte vor allem technische und teilweise klassifizierte Forschungen durchgeführt. Nach und nach verlagerte sich der Fokus jedoch auf die Nutzung neuer Technologien in der Bildung. Die treibende Kraft hinter PLATO war Professor Don Bitzer, ein Elektro- und Computertechnik-Professor, der zusammen mit Kollegen wie Dan Albert und Chalmers Sherwin an der Vision arbeitete, Computer als Lehrmittel einzusetzen. Die besondere Motivation lag darin, gegen damals bestehende Bildungsungleichheiten anzukämpfen, insbesondere gegen die europaweit und auch in den USA verbreitete Analphabetismusrate unter Jugendlichen.
Dabei orientierte sich das System an psychologischen Lerntheorien, insbesondere am Operanten Konditionieren von B.F. Skinner. Skinner hatte in Experimenten gezeigt, dass Tiere durch Belohnungssysteme lernten. Dieses Prinzip sollte mittels PLATO auf den Menschen übertragen werden – ein „Buch mit Rückmeldung“, das jede richtige Antwort belohnt und bei Fehlern Hilfestellung bietet.
Bereits in den frühen 1960er Jahren konnte PLATO erste Erfolge vorweisen. Das System arbeitete anfangs mit dem ILLIAC I, einem der damals modernsten Großrechner, und präsentierte Informationen auf Fernsehbildschirmen. Die erste Anwendung war die Vermittlung verschiedenster Schulfächer – von Fremdsprachen über Mathematik bis hin zu naturwissenschaftlichen Fächern. Der Umgang mit PLATO wurde in der Studentenzeitschrift der Universität, „The Daily Illini“, anhand eines fiktionalen Kindes namens „Little Jimmy“ anschaulich erklärt: Jimmy sitzt vor dem Bildschirm, bearbeitet Lektionen, erhält sofort Feedback und kann so in seinem eigenen Tempo lernen. Durch diese Form der Selbststeuerung und unmittelbaren Kontrolle unterschied sich PLATO grundlegend vom traditionellen Frontalunterricht und legte den Grundstein für individualisiertes Lernen.
Die rasante technische Entwicklung ließ PLATO kontinuierlich wachsen. Ein wichtiger Innovationsschritt war die Entwicklung eines günstigen und langlebigen Plasma-Displays, mit dem sich Farbgrafiken und interaktive Inhalte erstmals in höherer Qualität darstellen ließen. Dieses Display wurde von Bitzer, seinem Teammitglied Gene Slottow und dem Studenten Robert Willson erfunden. Mit solchen technischen Neuerungen war es möglich, PLATO-Systeme nicht nur in einem einzigen Labor zu betreiben, sondern über Kabelnetze auch in verschiedene Universitätsgebäude, Schulen und andere Bildungseinrichtungen zu verteilen. Im Jahr 1972 erreichte das Netzwerk bereits eine Kapazität von tausend gleichzeitigen Benutzern, was mit der damaligen Technik bemerkenswert war.
Neben den pädagogischen Anwendungen zeichnete sich PLATO aber auch durch seine frühe Vernetzung und gemeinschaftliche Nutzung aus. Programmierer und Studenten entwickelten immer ausgefeiltere Software, darunter eine Art Vorläufer moderner E-Mail- und Diskussionsforen namens „Notes“. Diese Funktion bot den Usern die Möglichkeit zur Kommunikation und Informationsaustausch über das System hinweg und schuf damit erste Online-Communitys. Ebenso entstanden dort frühe Multiplayer-Spiele wie „Empire“, das als eines der allerersten netzwerkbasierten Spiele gilt. Dadurch veränderte PLATO nicht nur die Bildungslandschaft, sondern lieferte auch Impulse für die Entwicklung von Social Media und Online-Spielen, wie wir sie heute kennen.
PLATO war aber nicht nur ein akademisches Experiment, sondern fand auch praktische Anwendung in der Berufsausbildung. Im 1980er-Jahren wurde das System erfolgreich für Trainingsprogramme eingesetzt, beispielsweise zur Schulung von Piloten des Boeing 767 oder für die Ausbildung von Mitarbeitern der Federal Aviation Administration (FAA) nach dem Auftreten von Arbeitskonflikten am Air Traffic Control. Diese realen Einsätze verdeutlichen die Zuverlässigkeit und Effizienz von PLATO in hochkomplexen und sicherheitsrelevanten Bereichen. Trotz aller Erfolge schaffte es PLATO nicht, sich vollständig vom Bildungssektor zu lösen und breite kommerzielle Anerkennung zu erreichen. Ein Grund dafür liegt in den hohen Kosten und der nötigen technischen Infrastruktur der damaligen Zeit.
Dennoch übernahmen spätere Systeme und Anwendungen viele der Konzepte, die PLATO einst eingeführt hatte. Die Ideen des Lernens am eigenen Tempo, der sofortigen Rückmeldung, der Gemeinschaftsbildung online und der interaktiven Inhalte sind heute Kernbestandteile moderner eLearning-Plattformen. Die Bedeutung von PLATO spiegelt sich auch im historischen Kontext wider. Während der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er und 70er Jahre, begleitet von Bürgerrechtsbewegungen, dem Vietnamkrieg und bahnbrechenden technologischen Entwicklungen, beschleunigte PLATO eine neue Form des Lernens und Kommunizierens, die langfristig unsere Lebenswelt prägte. Artikel über PLATO standen in studentischen Zeitungen Seite an Seite mit Berichten über soziale und politische Ereignisse und zeugen von der Dynamik jener Zeit.
Heute, in der Ära der Corona-Pandemie, in der Fernunterricht und digitale Bildungsmedien allgegenwärtig sind, bietet die Geschichte von PLATO wertvolle Einsichten. Es zeigt, wie technologischer Fortschritt, kreative Köpfe und gesellschaftliches Engagement zusammenwirken müssen, um Bildung für alle besser und zugänglicher zu gestalten. Noch wichtiger ist jedoch, dass PLATO als erster Vorreiter zahlreiche Technologien vorwegnahm, ohne die es keine eLearning-Plattformen, Online-Communities oder interaktive Lernspiele geben würde. Insgesamt steht PLATO für die Verbindung von Lernen, Vernetzung und Innovation – eine Kombination, die auch heute noch relevant ist und zukünftige Entwicklungen in der Bildung prägen wird. Die Vision der University of Illinois, Computer gezielt zur Förderung von Wissen und sozialer Interaktion einzusetzen, bleibt ein zeitloses Beispiel dafür, wie Technologie im Dienst der Menschheit stehen kann.
Wer einen Blick hinter die Kulissen moderner Bildungssysteme wirft, entdeckt unweigerlich die Fußspuren von PLATO, dem wahren Pionier der computerbasierten Lerngeneration.