Gähnen zählt zu den grundlegenden und zugleich geheimnisvollen Verhaltensweisen bei Menschen und zahlreichen Tierarten. Neben der physiologischen Funktion – etwa der Regulierung von Wachheit und Gehirntemperatur – hat das Gähnen eine soziale Dimension, die insbesondere in Form von ansteckendem Gähnen in den Fokus wissenschaftlicher Forschung gerückt ist. Eine jüngst publizierte Studie aus dem Jahr 2025 stellt dabei eine bemerkenswerte Entdeckung vor: Schimpansen, unsere nächsten lebenden Verwandten, reagieren mit ansteckendem Gähnen sogar auf einen Androiden, der diesen Reflex biologisch realistisch darstellt. Diese Erkenntnis wirft neues Licht auf die Mechanismen von sozialer Ansteckung, Empathie und deren Evolutionsgeschichte. Anders als in bisherigen Untersuchungen, die meist ausschließlich die Reaktion auf andere Lebewesen betrachteten, demonstriert die Studie eine Reaktion auf eine künstliche, nicht-biologische Entität.
Die Konsequenzen dieser Beobachtung reichen weit über die reine Verhaltensforschung hinaus und eröffnen neue Wege in der Erforschung interspezifischer Kommunikation, sozialer Kognition und der Interaktion von Mensch, Tier und Maschine. Die Studie wurde mit 14 erwachsenen Schimpansen durchgeführt, die im Fundació Mona Primate Sanctuary in Spanien leben. Die Versuchsanordnung beinhaltete den Einsatz eines Androiden in Form eines menschlich aussehenden Roboters, der kontrollierte Gesichtsausdrücke zeigte – darunter Gähnen, ein teilweises Öffnen des Mundes (Gape) und eine neutrale Haltung mit geschlossenem Mund. Dabei beobachteten die Schimpansen das Verhalten des Androiden in drei separaten Situationen, jeweils 5 Minuten lang. Wesentlich war, dass das Gähnen des Roboters realistisch die Muskelbewegungen und Zeitdauer eines natürlichen Gähnens simulierte.
Die Resultate zeigen klar, dass in der Yawn-Bedingung (dem Gähnen) mehr als die Hälfte der Schimpansen ebenfalls gähnten, während in den Gape- und Close-Bedingungen kaum Gähnreaktionen zu beobachten waren. Die Gähnreaktionen traten zudem nicht nur während der Vorstellung des Androiden auf, sondern auch in der unmittelbar anschließenden Zeit. Neben dem reinen Gähnen beobachteten die Forscher außerdem vermehrte Verhaltensweisen, die auf Dösigkeit hindeuten, wie das Hinlegen oder Nestbauen – typisch für Ruhephasen bei Schimpansen. Dieses Verhalten deutet darauf hin, dass das Gähnen des Androiden nicht nur einen bloßen Nachahmungseffekt auslöst, sondern möglicherweise einen kontextuellen Hinweis für Ruhe und Entspannung darstellt. Die Bedeutung dieser Beobachtungen ist vielschichtig.
Zum einen belegen sie, dass ansteckendes Gähnen bei Schimpansen über die Grenze der Art hinaus wirken kann, selbst wenn der Auslöser keine biologische Entität ist. Dies widerspricht der vermuteten Notwendigkeit einer sozialen oder emotionalen Bindung zum Signalgeber, die in vorangegangener Forschung häufig als Voraussetzung für Gähn-Ansteckung diskutiert wurde. Die Schimpansen zeigten also eine empathieähnliche Reaktion gegenüber einem künstlichen Modell, das offensichtlich keine eigenständige soziale Instanz ist. Diese Tatsache liefert wichtige Hinweise darauf, dass die Wahrnehmung von sozial relevanten Signalen und deren Nachahmung möglicherweise evolutionär tief verankert sind und nicht zwingend auf konventionelle soziale Kontakte reduziert werden können. Zudem ergänzt das Ergebnis die theoretischen Diskussionen zur Funktion von Gähnen in der sozialen Kommunikation.
Während physiologische Erklärungen wie die Regulierung der Hirntemperatur oder der zerebralen Wachheit im Vordergrund stehen, betonen neuere Studien auch die Bedeutung von Gähnen als nonverbales Signal zur Synchronisation von Gruppenverhalten und zur emotionalen Angleichung innerhalb sozialer Verbände. Die Tatsache, dass Schimpansen beim Beobachten eines gähnenden Androiden vermehrt in Ruhephasen fallen, unterstützt die Annahme, dass Gähnen die Bereitschaft zum Ausruhen oder zur Gruppenruhe symbolisieren kann. Die Art und Weise, wie der Android konstruiert wurde, um menschlich-biologische Bewegungen minutiös nachzuahmen, liefert ebenfalls wertvolle Erkenntnisse für die Schnittstellenforschung zwischen Robotik und Verhaltenswissenschaften. Der Einsatz von 33 präzisen Servomotoren erlaubte es, natürliche Mimik überzeugend zu simulieren, wobei gleichzeitig die mechanische Natur klar erkennbar blieb. Das Zusammenspiel von vertrauten biologischen Bewegungsmustern mit der kühlen Künstlichkeit des Roboters erzeugt so einen einzigartigen Reiz für die Schimpansen.
Interessant ist zudem die Beachtung der Aufmerksamkeit der Schimpansen während des Experiments. Obwohl das Interesse an der Erscheinung des Androiden in allen Bedingungen vergleichbar war, zeigte sich eine signifikante Korrelation zwischen der Dauer der Aufmerksamkeit und dem Auftreten von Gähnreaktionen, was nahelegt, dass eingehendes Beobachten des Gähnens das Ansteckungsrisiko erhöht. Die Implikationen der Forschung erstrecken sich ebenfalls auf den menschlichen Umgang mit künstlichen Agenten. Bereits bei Menschen haben Studien gezeigt, dass die Wahrnehmung und Interaktion mit humanoiden Robotern komplexe Mechanismen der sozialen Kognition, Empathie und Simulation aktivieren kann. Die Beobachtung, dass auch Schimpansen auf künstliche Gähnstimuli reagieren, unterstreicht den evolutionären Ursprung solcher Mechanismen und legt nahe, dass physische und bewegungsbezogene Eigenschaften wesentliche Faktoren sozialer Bindung und Nachahmung sind – unabhängig von der biologischen Herkunft des Gegenübers.
Zukünftige Forschungen könnten daher den Einfluss anderer emotionaler oder sozialer Signale von Robotern auf Tiere und Menschen erforschen. Zudem stellt sich die Frage, wie diese Erkenntnisse in der Rehabilitation von Tieren, in der Robotik oder in der Psychotherapie genutzt werden können. Beispielsweise könnten realistisch bewegende Androiden nicht nur zur Verhaltensforschung eingesetzt werden, sondern auch als sozial-interaktive Partner bei Tieren, die Enrichment benötigen oder in humanitärer Pflege stehen. Darüber hinaus könnten Studien, die das Feld der interspezifischen Kommunikation erweitern, von großem Interesse sein. Die Tatsache, dass Gähnen – ein uraltes, vermutlich vorSprachliches Kommunikationsmittel – grenzüberschreitend wirkt, wirft Fragen zur Entwicklung von Empathie und sozialer Synchronisation im Tierreich auf.
Dies wiederum gibt Hinweise auf die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten beim Menschen und den grundlegenden mentalen Prozessen, die dem menschlichen Miteinander zugrunde liegen. Abschließend lässt sich resümieren, dass Schimpansen auf das Gähnen eines Androiden mit ansteckendem Gähnen reagieren und zugleich Verhaltensweisen zeigen, die auf eine Interpretation des Gähnens als Signal für Ruhe hinweisen. Diese Resultate stellen einen bedeutenden Fortschritt in der Erforschung sozialer Kognition und empathischer Prozesse dar und werfen ein neues Licht auf die Beziehung zwischen biologischen Wesen und technischen Artefakten. Die Studie fördert das Verständnis darüber, wie Urformen sozialer Kommunikation über rein biologische Grenzen hinaus fortbestehen und wie Technologie als Werkzeug dienen kann, um das Verhalten und die innere Welt von Tieren und Menschen besser zu erforschen.