Stickstoff ist das am häufigsten vorkommende Element in unserer Atmosphäre und existiert dort überwiegend als das sehr stabile, molekulare N2. Seit Jahrzehnten fasziniert die Wissenschaft die Suche nach elementaren Stickstoffverbindungen mit höherer Atomanzahl, sogenannten Stickstoff-Allesotroppen, die neben N2 existieren könnten. Die Herstellung solcher neutralen Stickstoffmoleküle ist nicht nur eine synthetische Herausforderung, sondern birgt auch enormes Potenzial als Hochenergiematerialien. Der kürzlich im Fachjournal Nature publizierte Durchbruch zur Vorbereitung eines neutralen Hexanitrogen-Moleküls C2h-N6 markiert einen Meilenstein in der polynitrogenen Chemie und könnte weitreichende Anwendungen ermöglichen. Im Folgenden wird die Synthese, Charakterisierung und das Bedeutungsspektrum dieses bislang unzugänglichen Stickstoff-Allotrops ausführlich erläutert.
Die Grundlagen der polynitrogenen Verbindungen reichen tief in die Chemie zurück, wo seit langem bekannte Verbindungen wie hydrazoische Säure (HN3) und deren Radikale untersucht werden. Während Ionen wie das pentanitratisierte Kation [N5]+ und das cyclische pentazolatanion [N5]– bereits erfolgreich isoliert und charakterisiert wurden, blieb der direkte Nachweis neutraler, höherer Stickstoffmoleküle jenseits von N2 bislang aus. Die größten Hürden sind die immense Reaktivität und Instabilität neutraler polynitrogenischer Moleküle, deren Zerfallswege vorwiegend in der Zerlegung zu molekularem Stickstoff enden, oftmals begleitet von sehr niedrigen Dissoziationsbarierren, die eine vielzahliger Existenz bei Raumtemperatur verhindern. Mit ihrer Arbeit gelingt dem Forscherteam um Weiyu Qian, Artur Mardyukov und Peter R. Schreiner erstmals die Synthese eines neutralen N6-Moleküls mit der C2h-Symmetrie, auch bekannt als Hexanitrogen.
Die zentrale Strategie liegt in der Gasphasereaktion von Halogenmolekülen wie Cl2 oder Br2 mit Silberazid (AgN3) unter reduziertem Druck bei Raumtemperatur. Dem anschließenden Einfangen der Reaktionsprodukte in Argonmatrizen bei extrem niedrigen Temperaturen von 10 K verdanken sie die Stabilisierung und Identifizierung von N6. Zusätzlich konnte N6 als reines Filmpräparat bei flüssigem Stickstoff (-196 °C, 77 K) gewonnen werden, was seine Stabilität über signifikante Zeiträume bei tiefen Temperaturen bestätigt. Die Charakterisierung von Hexanitrogen erfolgte mittels anspruchsvoller spektroskopischer Methoden. Die Infrarotspektroskopie zeigte spezifische Absorptionsbanden, die durch isotopenmarkierte Stickstoffe zusätzlich bestätigt wurden und eindeutig der Präsenz von zwei N3-Einheiten im Molekül entsprachen.
Die UV-Vis-Spektren ergänzten diese Befunde, indem sie die elektronischen Übergänge von N6 identifizierten und nachwiesen, dass die Moleküle durch Bestrahlung mit Licht bei 436 nm zerstört, aber auch gezielt untersucht werden können. Eine bedeutende Rolle spielten dabei quantenchemische Berechnungen, die mit modernsten Methoden wie CCSD(T) kombiniert wurden, um sowohl geometrische Parameter als auch Schwingungsmoden und Reaktionsprofile theoretisch zu untermauern. Das theoretische Modell offenbart eine besondere molekulare Struktur mit zwei N3-Moiety, die durch ein zentrales Bindungsglied miteinander verbunden sind. Die Bindungslängen deuten auf Doppelbindungscharakter hin, während die Elektronendichteanalysen mithilfe der Laplazian- und Elektron-Lokalisationsfunktion auf schwächere Stellen am Zentral-Nitrogen hinweisen, welche jedoch relativ hohe Dissoziationsbarrieren aufweisen. Die Berechnungen ergaben eine Dissoziationsbarriere von 14,8 kcal/mol für den Zerfall in drei N2-Moleküle, ein Wert, der für eine kinetische Stabilität am Raumtemperaturbereich spricht, zumindest für kurze Zeitspannen.
Zudem zeigen Simulationen quantenmechanischer Tunneleffekte, dass N6 im Gegensatz zu vergleichbaren Hexazinringen nur sehr langsam und kontrolliert zerfällt, was dessen experimentelle Auffindbarkeit erklärt. Die energetische Analyse der Verbindung offenbart nicht nur eine hohe Energiedichte, sondern auch eine sehr exotherme Zerlegung in molekularen Stickstoff. Die berechnete Zerfallsenthalpie liegt bei etwa 185 kcal/mol, was vergleichbare Größenordnungen zu bekannten Explosivstoffen wie TNT und HMX übertrifft. Daraus resultieren Detonationsgeschwindigkeiten und -drücke, die den Erwartungen an leistungsfähige Energiematerialien entsprechen. Dies macht Hexanitrogen zu einem potenziell revolutionären Energieträger, der am Ende seiner Reaktionskette nur umweltfreundliches Stickstoffgas hinterlässt.
Die Herstellung von Silberazid als Ausgangsstoff geschieht über die Reaktion von Silbernitrat mit Natriumazid in wässriger Lösung, gefolgt von einer sorgfältigen Waschung und Trocknung. Die Handhabung erfordert höchste Sicherheitsmaßnahmen, da sowohl Silberazid als auch die eingesetzten Halogenazide äußerst empfindlich gegenüber Hitze, Reibung und Licht sind. Diese vorsichtigen Vorgehensweisen sind essentiell, um einen kontrollierten Reaktionsverlauf und den Erhalt von Hexanitrogen zu gewährleisten. Der theoretische und experimentelle Durchbruch bei der Herstellung von C2h-N6 erweitert nicht nur das fundamentalwissenschaftliche Verständnis molekularer Stickstoffverbindungen, sondern weist auch den Weg für weitere Forschungen in Richtung stabilerer oder funktionellerer Stickstoff-Allesotroppen. Die Möglichkeit, stabile neutrale polynitrogene Moleküle zu erzeugen, könnte langfristig neue Wege für die Entwicklung sauberer und hocheffizienter Energiespeicher eröffnen.
Außerdem erlaubt die gewonnen Erkenntnis eine Verfeinerung der theoretischen Modelle zum Verhalten von Elementarstoffen unter verschiedenen Bedingungen. Darüber hinaus ist das Vorhandensein solcher Stickstoff-Allesotroppen interessant für die Materialwissenschaft, da sie unter bestimmten Umständen als Bausteine für die Synthese neuer Materialien mit einzigartigen elektronischen und chemischen Eigenschaften dienen könnten. Im Mobilitätssektor, bei der Raumfahrt oder bei der Energieerzeugung könnten energiehaltige Stickstoffverbindungen mit emissionsfreien Zerfallsprodukten eine nachhaltige und leistungsfähige Alternative zu herkömmlichen Brennstoffen darstellen. Zusammenfassend stellt die erfolgreiche Synthese und Charakterisierung des neutralen Hexanitrogen-Moleküls C2h-N6 eine wegweisende Leistung in der Chemie dar. Sie zeigt, dass es möglich ist, bislang rein theoretisch postulierte polynitrogene Spezies experimentell zu erzeugen und stabil zu halten.
Die Verbindung bietet eine Kombination aus hoher Energiedichte und relativer Stabilität, was sie zu einem Objekt intensiver künftiger Forschung macht. Die Arbeit könnte als Startpunkt für weitere Entwicklungen im Bereich der Energiematerialien und der elementaren Chemie verstanden werden und markiert einen wichtigen Schritt in der Erschließung bislang unbekannter molekularer Welten.