Farben sind ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Sie beeinflussen unsere Stimmungen, Entscheidungen und wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Doch überraschenderweise gab es eine Zeit in der Geschichte der Menschheit, in der manche Farben, insbesondere Blau, nicht als eigenständige Farbkategorie existierten. Wie kann es sein, dass eine Farbe, die heute für viele unverzichtbar und allgegenwärtig erscheint, einst so unbekannt war? Die Antwort darauf ist so erstaunlich wie aufschlussreich und zeigt, dass unsere Wahrnehmung von Farben eng mit Sprache, Kultur und Wahrnehmungskapazitäten verbunden ist. Die Geschichte des Blau-Sehens ist eng verwoben mit der Entwicklung menschlicher Sprachen und der kulturellen Bedeutungszuweisung.
Sprachwissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass viele alte Kulturen und Sprachen, darunter Altgriechisch, Chinesisch, Japanisch und Hebräisch, ursprünglich keinen eigenen Begriff für die Farbe Blau hatten. Stattdessen wurden Brückenbegriffe verwendet, die Blau oft mit Grün, Schwarz oder anderen Farbtönen vermischten. Ein berühmtes Beispiel dafür stammt aus Homers „Odyssee“, in der das Meer als „wein-dunkel“ beschrieben wird, anstatt als blau. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Menschen Blau tatsächlich sahen, oder ob es schlicht keine kognitive Trennung dieser Farbe gab. William Gladstone, später britischer Premierminister, fiel bereits im 19.
Jahrhundert auf, dass in alten Texten Blau kaum eine Rolle spielte. In seinen Untersuchungen stellte er fest, dass Schwarz und Weiß in antiken Werken häufig erwähnt wurden, Rot folgte auf Platz drei, während Blau fast gänzlich fehlte. Diese Beobachtung erstreckte sich nicht nur auf das Griechische, sondern fand sich in vielen Kulturen und Sprachräumen. Philologen wie Lazarus Geiger erweiterten diese Forschung und kamen zu dem Schluss, dass nahezu jede Sprache dieselbe Reihenfolge bei der Entwicklung von Farbbegriffen aufweist. Zu Beginn gab es nur Begriffe für Hell und Dunkel oder Schwarz und Weiß.
Danach entstand das Wort für Rot, dann für Gelb oder Grün – und als letztes kam Blau hinzu. Diese Abfolge hat große Bedeutung, denn sie zeigt, dass unsere Farbwahrnehmung nicht rein biologisch, sondern auch stark kulturell bedingt ist. Warum gerade Blau so spät als eigenständige Kategorie auftaucht, hat verschiedene Gründe. Einer davon ist die Seltenheit von Blau in der natürlichen Umgebung. Viele Tiere, die für das Überleben wichtig waren, hatten keine blaue Färbung.
Auch blaue Pflanzen sind eher selten und häufig künstlich gezüchtet. Das Blau des Himmels ist zwar allgegenwärtig, doch ob es in alten Kulturen wirklich als Farbe wahrgenommen wurde, ist fraglich. Die Heiligen Schriften und alten Gedichte erzählen oft vom Himmel ohne ihn als blau zu kategorisieren. Der Himmel wurde eher als transparent, lichtdurchlässig oder in anderen Begriffen beschrieben, die nicht der heutigen Farbwahrnehmung entsprechen. Ein bedeutender Durchbruch im Verständnis kam mit den Forschungen von Forschern wie Guy Deutscher, der in seinem Buch „Through the Language Glass“ argumentiert, dass Sprache unser Denken und Wahrnehmen formt.
Ein kleines Experiment mit seiner Tochter, bei dem er ihr nie den Himmel als blau beschrieb, führte dazu, dass sie den Himmel zunächst als farblos oder weiß wahrnahm, bis sie schließlich das Konzept von Blau erlernte und es als passend empfand. Dies stützt die Idee, dass das Sehen von Farbe nicht nur von den Augen abhängt, sondern auch von der Sprache und kulturellen Einbindung. Die biologische Fähigkeit zur Farbwahrnehmung ist hingegen bei allen Menschen im Wesentlichen gleich. Unsere Augen besitzen verschiedene Fotorezeptoren, sogenannte Zapfen, die jeweils auf bestimmte Wellenlängen des Lichts reagieren. Diese Zapfen sind für das Sehen von Rot, Grün und Blau zuständig.
Dass Blau also nicht „gesehen“ wurde, liegt nicht an der fehlenden biologischen Fähigkeit, sondern vielmehr daran, wie das Gehirn diese Informationen interpretiert und in Sprache und Kultur verankert. Ein aufschlussreiches Forschungsbeispiel ist die Arbeit mit dem Himba-Volk in Namibia, deren Sprache keinen Unterschied zwischen Blau und Grün kennt. In Experimenten konnten die Himba nur schwer zwischen einem blauen Quadrat und grünen Quadraten unterscheiden, während sie sehr feine Unterschiede innerhalb von Grüntönen problemlos erkannten. Das zeigt, dass Sprache und Kultursysteme die Wahrnehmung der Farben beeinflussen und besonders die Fähigkeit stärken, feinere Unterscheidungen innerhalb der durch Sprache definierten Kategorien vorzunehmen. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass wir durch unsere Kultur dazu gebracht werden, bestimmte Farben bewusster zu erkennen und zu differenzieren.
Die ägyptische Kultur stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar, denn sie war die einzige alte Zivilisation, die schon früh einen Begriff für Blau hatte. Wahrscheinlich begünstigt durch die Fähigkeit, einen blauen Farbstoff herzustellen, tauchte der Begriff und die Wahrnehmung von Blau hier früher auf als andernorts. Verfügbarer blauer Farbstoff und kulturelle Einbettung spielen eine entscheidende Rolle darin, wie und wann Farben als Konzept entstehen. Die Erkenntnisse über das Blau möchten uns auch darüber reflektieren lassen, wie die Wahrnehmung von Dingen um uns herum durch Sprache und Kultur geformt wird. Farben sind nicht nur physische Phänomene, sondern auch soziale Konstruktionen, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt haben.
Durch die Sprache lernen wir nicht nur, Farben zu benennen, sondern auch, sie bewusst als unterschiedliche Qualitäten wahrzunehmen. Darüber hinaus beweisen diese Untersuchungen, wie tief Sprache und Wahrnehmung miteinander verwoben sind. Ohne einen Begriff für eine Farbe fällt es den Menschen schwer, diesen Farbton bewusst zu erkennen und zu differenzieren. Unsere Augen sehen das Spektrum des Lichts, aber das Bewusstsein und die Einordnung einer Farbe im täglichen Leben sind kulturell geprägt und sprachlich vermittelt. In der modernen Welt hat sich das Verständnis von Farben mit der wissenschaftlichen Entdeckung der Lichtwellenlängen, der Farbspektren und der Funktionsweise der Augen dramatisch verändert.
Blumen werden gezüchtet, um ein tiefes Blau zu zeigen, Bekleidung, Kunst und Technologie nutzen Blau als Symbol für bestimmte Emotionen und Assoziationen. Heutzutage ist Blau eine der beliebtesten Farben der Welt, doch die Geschichte zeigt, dass das nicht immer so war. Aufschlussreich ist auch, dass es Menschen gibt, insbesondere einige Frauen, die sogenannte Tetrachromaten sind und viel mehr Farbnuancen wahrnehmen können als der Durchschnittsmensch. Dies ist ein weiterer Aspekt der Vielfalt in der menschlichen Farbwahrnehmung und eine Erinnerung daran, dass unser individuelles Erleben von Farben beeinflusst wird von Biologie, Kultur und Sprache. Die Geschichte des Blau-Sehens veranschaulicht damit nicht nur eine spannende Facette des menschlichen Erkennens, sondern lädt uns auch ein, unsere Welt und die Art, wie wir sie wahrnehmen, neu zu betrachten.
Es zeigt, dass unsere Sinne nicht von Natur aus absolut sind, sondern in engem Bezug zu unserer Kultur und Sprache stehen. Farben existieren nicht nur als physische Eigenschaften von Licht, sondern auch als Werkzeuge des Denkens und Kommunizierens. Vor allem aber erinnert uns die Geschichte des Blau daran, wie wandelbar und komplex unsere Wahrnehmung ist und wie wichtig die Sprache als Schlüssel für das Erkennen und Erleben der Welt um uns herum ist.