Die Welt der Kryptowährungen und der dezentralen Finanzdienstleistungen (DeFi) erlebt derzeit eine bedeutende Verschiebung in der Priorisierung und Nutzung unterschiedlicher Protokolle und Plattformen. Besonders auffällig ist, dass die Total Value Locked (TVL) in DeFi-Kreditvergabeprotokollen in jüngster Zeit die TVL dezentraler Börsen, bekannt als DEXs (Decentralized Exchanges), deutlich übersteigt. Dieses Phänomen lässt sich vor allem durch das Streben der Nutzer nach nachhaltigeren Renditen und einem sichereren Anlageumfeld erklären. Ein erfahrener Venture Capitalist (VC) aus der Krypto-Szene bringt dabei neue Perspektiven in die Debatte ein und beleuchtet die Mechanismen hinter dieser Entwicklung. Die Total Value Locked ist ein zentraler Indikator für die Popularität und Liquidität in einem DeFi-Protokoll.
Sie beschreibt den Gesamtwert der digitalen Vermögenswerte, die in einem Protokoll hinterlegt und gebunden sind. In den letzten Jahren waren dezentrale Börsen wie Uniswap oder Sushiswap tonangebend, wenn es um TVL ging. Sie ermöglichten Kryptowährungen auf einfache Weise zu handeln und waren durch hohe Belohnungen für Liquiditätsanbieter äußerst attraktiv. Dennoch hat sich das Blatt gewendet. Die DeFi-Kreditvergabeprotokolle befinden sich seit Anfang 2023 in einem starken Aufwärtstrend und verzeichnen neue Rekordwerte bei der TVL.
Aktuell liegt die TVL in DeFi-Lending-Protokollen bei rund 53,6 Milliarden US-Dollar, was über 40 % des gesamten DeFi-Marktes von etwa 124,6 Milliarden US-Dollar entspricht und damit sogar mehr als die Liquid Staking Protokolle übertrifft. Ein herausragendes Beispiel für den Erfolg im DeFi-Kreditsegment ist der multichainfähige Kreditgeber Aave, der rund 25 Milliarden US-Dollar an gesperrten Vermögenswerten verwaltet. Das entspricht fast der Hälfte der gesamten TVL im DeFi-Kreditmarkt und gibt ein klares Signal über das Vertrauen der Community in das Konzept. Dabei ermöglicht Aave sowie weitere Kreditplattformen wie Compound Finance Nutzern, ihre digitalen Assets wie Ether (ETH) oder stabile Coins wie Tether (USDT) zu verleihen und dafür Zinsen zu erwirtschaften oder eigene Kredite aufzunehmen, wobei Smart Contracts die Prozesse intelligent und vertrauenslos steuern. Die jährlich erzielbaren Renditen liegen derzeit bei ungefähr 1,86 % für ETH und 3,17 % für USDT, was zwar auf den ersten Blick moderat wirkt, jedoch als wesentlich nachhaltiger und stabiler gegenüber den oft schwankenden Erträgen aus Liquiditätspools bei DEXs einzuschätzen ist.
Auf der anderen Seite des Spektrums befinden sich die DEXs. Diese Plattformen waren im Jahr 2021 auf ihrem Höhepunkt und verwalteten TVL-Werte von bis zu 85,3 Milliarden US-Dollar. Seitdem hat sich die Situation jedoch dramatisch verändert. Die TVL der DEXs sank bis Mitte 2025 auf etwa 21,5 Milliarden US-Dollar, was einen erheblichen Rückgang darstellt. Speziell Uniswap, der unangefochtene Marktführer unter den dezentralen Börsen, verzeichnet rückläufige Liquiditätsreserven.
Verschiedene Faktoren begünstigen diesen Trend. Einer der wichtigsten Gründe ist das Problem des sogenannten „impermanenten Verlusts“, der Liquiditätsanbieter von DEXs finanziell belasten kann. Im Gegensatz zum Verleih von Kryptos sind die Belohnungen bei Liquiditätspools oft volatil und hängen stark von den Schwankungen der Preise der hinterlegten Token ab. Dies schreckt viele Anleger ab, die langfristig stabile Renditen suchen. Darüber hinaus hat die Einführung von Uniswap v3 eine signifikante Veränderung im DEX-Bereich bewirkt.
Uniswap v3 bietet eine kapitaloptimiertere Version der Plattform, die es Liquiditätsanbietern ermöglicht, ihre Mittel zielgerichteter und effizienter einzusetzen. Während diese Entwicklung grundsätzlich positiv ist, kann sie paradoxerweise zu einem Rückgang der gesamten TVL führen, da weniger Kapital für denselben Ertrag gebunden werden muss. Liquiditätsanbieter, die zuvor große Summen in Pools investierten, binden somit heute oft weniger Kapital, was sich in einem niedrigeren TVL niederschlägt. Ein weiterer Aspekt, der den Rückgang der DEX-TVL beeinflusst, ist der Aufstieg von Intent-Based Swaps, einem neuartigen Mechanismus für den Crosschain-Handel. Hierbei greifen Market Maker zunehmend auf Liquidität aus zentralisierten Börsen zurück, um effiziente Token-Swaps zu ermöglichen, anstatt die Liquidität auf dezentrale Börsen direkt zu stützen.
Dies verringert wiederum die Notwendigkeit, Vermögenswerte auf DEXs zu hinterlegen. Aus Sicht von Branchenexperten wie Henrik Andersson, Gründer des Crypto-Fonds Apollo Capital, ist die Verlagerung hin zu DeFi-Lending-Modellen vor allem dadurch zu erklären, dass das Verleihen von Assets als „die einzige nachhaltige Möglichkeit zur Renditegenerierung“ in der DeFi-Welt gilt. Die meisten anderen Modelle, insbesondere das Liquiditätsproviding bei DEXs, sind oft mit Unsicherheiten und kurzfristigen Schwankungen verbunden, die Investoren zunehmend vermeiden wollen. Die DeFi-Kreditvergabe hingegen basiert auf bewährten Konzepten wie Überbesicherung und algorithmisch gesteuerten Zinssätzen, die das Risiko minimieren und für eine stabilere Ertragslage sorgen. Diese Entwicklung hat auch zu einer bemerkenswerten Marktverschiebung zwischen zentralisiertem (CeFi) und dezentralem Finanzwesen geführt.
Bis Ende 2024 dominierte DeFi-basierte Kreditvergabe bereits rund 65 % des Gesamtmarkts für Kryptokredite, ein Anteil, der sich kontinuierlich gegen die zentralisierten Anbieter behauptet hat. Das Vertrauen in traditionelle CeFi-Plattformen, insbesondere nach dem kollabierenden Schicksal von Größen wie Genesis, Celsius Network, BlockFi und Voyager, hat signifikant gelitten. Diese Insolvenzen sorgten für einen massiven Einbruch der gesamten Kreditvergabe-TVL von zentralisierten Anbietern um geschätzte 78 % vom Höhepunkt 2022 bis zum Tiefpunkt im Bärenmarkt. Die Erholung im Krypto-Kreditmarkt wurde maßgeblich von DeFi-Protokollen getragen. Laut Berichten von Galaxy Digital stieg die Anzahl der offenen DeFi-Kredite von Q4 2022 bis Q4 2024 um fast 960 %.
Dieses Wachstum unterstreicht die Robustheit und Anpassungsfähigkeit der DeFi-Lending-Plattformen. Viele Nutzer schätzen vor allem die Transparenz und die algorithmisch gesteuerten Risikomodelle, die in diesen Protokollen Anwendung finden. Die Praxis der Überbesicherung, bei der Kreditnehmer mehr Sicherheiten hinterlegen müssen als sie ausleihen, schafft zusätzliche Sicherheit für Kreditgeber und trägt dazu bei, das ökonomische Gleichgewicht zu bewahren. Zusätzlich wird erwartet, dass die institutionelle Beteiligung und klare regulatorische Rahmenbedingungen den nächsten Wachstumsschub im Bereich der Krypto-Kreditvergabe auslösen werden. Institutionen suchen zunehmend nach verlässlichen, kontrollierten Möglichkeiten, um in Kryptowerte zu investieren.
DeFi-Plattformen bieten ihnen aufgrund ihrer Offenheit und Effizienz eine attraktive Alternative zu traditionellen Finanzinstitutionen. Die beschriebenen Entwicklungen zeichnen ein Bild einer Reifephase des DeFi-Marktes, in der Qualität, Nachhaltigkeit und Risikomanagement die obersten Prioriäten setzen. Investoren und Nutzer orientieren sich von kurzfristigen Spekulations- und Liquiditätsmodellen hin zu dauerhafteren und risikoärmeren Anlagemöglichkeiten. Gerade in einem Markt, der immer wieder von starken Schwankungen und Unsicherheiten geprägt ist, gewinnt das Vertrauen in stabile Ertragsquellen enorm an Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Anstieg der TVL in DeFi-Lending-Protokollen gegenüber dem Rückgang bei dezentralen Börsen maßgeblich auf das Bedürfnis nach nachhaltigen Renditen und risikoärmeren Investitionen zurückzuführen ist.
Die technischen Innovationen und smartere Kapitalallokation bei DEXs haben zwar die Effizienz gesteigert, doch gleichzeitig die gebundene Liquidität reduziert. Die Krise zentralisierter Kreditplattformen hat dem DeFi-Sektor weiteres Wachstumspotential verschafft und bietet Anlegern eine verlässliche Option für langfristige Kapitalanlage. Wenn regulatorische Klarheit und institutionelle Adoption die nächsten Stufen erreichen, könnte die DeFi-Kreditvergabe zu einem der wichtigsten Säulen der globalen Finanzlandschaft werden – ein Paradigmenwechsel, der weit über die Kryptowährungsszene hinaus Wirkung zeigt.