Die Diskussion um Künstliche Intelligenz (KI) und ihre Auswirkungen auf Arbeitsplätze ist allgegenwärtig und beschäftigt Fachleute, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen. Ein besonders verbreitetes Mantra lautet: „KI wird dir nicht den Job wegnehmen, aber jemand, der KI nutzt, wird es tun.“ Dieser Satz hat in den letzten Jahren auf Plattformen wie LinkedIn oder in Diskussionsrunden Konjunktur und erzeugt ein Gefühl von Dringlichkeit und Wettbewerb. Doch so verlockend und intuitiv diese Aussage auch sein mag, steckt darin eine Reihe von fundamentalen Denkfehlern, die nicht nur den Blick auf die Realität verzerren, sondern auch falsche Sicherheit vermitteln. Um diese Irrtümer zu verstehen, ist es unerlässlich, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Technologie, Arbeitssystemen und wirtschaftlicher Dynamik genauer zu betrachten.
Ein hilfreicher Vergleich findet sich in einem historischen Beispiel: dem Maginot-Linie-Konzept des französischen Militärs zwischen den Weltkriegen. Obwohl diese Verteidigungslinie eine technische Meisterleistung darstellte, war sie letztlich eine perfekte Antwort auf die falsche Fragestellung. Die Franzosen verpassten den Wandel in der Kriegführung, den die deutsche Blitzkrieg-Taktik symbolisierte – eine neue Systemlogik, die Mobilität, Koordination und Überraschung in den Vordergrund stellte. Ähnlich verhält es sich mit der Debatte um KI und Jobverluste. Der Satz „KI wird dir nicht den Job wegnehmen, aber jemand, der KI nutzt, wird es tun“ ist technisch gesehen korrekt, doch er ist konzeptuell knapp und führt in die Irre, wenn man nicht tiefer in die systemischen Veränderungen eintaucht, die KI mit sich bringt.
Der Kern des Problems liegt darin, dass diese Sichtweise zu sehr auf die einzelne Aufgabe innerhalb eines Jobs fokussiert und die umfassenderen Veränderungen auf der Ebene der gesamten Arbeitsstrukturen, Arbeitsabläufe und Organisationslogiken ignoriert. Es handelt sich somit um eine sogenannte „rahmenbasierte Fehlinterpretation.“ Die traditionelle Unterscheidung zwischen Automatisierung und Augmentation - also ob KI Tätigkeiten vollständig übernimmt oder nur unterstützt – greift nicht mehr ausreichen. KI verändert nicht nur einzelne Aufgaben, sondern schafft eine neue Architektur von Arbeit, in der manche Aufgaben obsolet werden, andere neu definiert und wieder andere ganz neu entstehen. Dieses Phänomen findet sich exemplarisch bei der Containerisierung im Logistiksektor, die nicht nur Tätigkeiten automatisierte, sondern das gesamte System von Häfen, Transportwegen und Handelsströmen radikal neu gestaltete.
Für einzelne Mitarbeiter bedeutete das nicht nur das Erlernen neuer Werkzeuge, sondern oft auch den Verlust ihres bisherigen Arbeitskontexts. Die vermeintliche Wettbewerbssituation „ich gegen jemand, der KI nutzt“ übersieht, dass sich mit KI nicht nur die Werkzeuge verändern, sondern die gesamte Spielweise – oder anders gesagt, die Systemlogik. Das Rennen um den besten Umgang mit KI ist daher nicht nur ein Wettbewerb auf der Ebene einzelner Fähigkeiten, sondern ein Wandel, der ganze Arbeitsrollen oder ganze Branchen in ihrem Wesen transformiert. Eine statische Vorstellung von „Jobs“ als festen Einheiten ist daher veraltet. Ähnlich wie sich im Basketball durch neue Spielanalysen die festen Spielerpositionen auflösten und durch flexiblere Rollenzuweisungen ersetzt wurden, können auch Arbeitsrollen ihre traditionelle Gestalt verlieren.
In einem durch KI geprägten Umfeld bedeutet dies, dass weniger die Erhaltung klassischer Arbeitsaufgaben im Vordergrund steht, sondern die Fähigkeit, neue Rollen und Positionen innerhalb eines sich wandelnden Systems einzunehmen. Zusätzlich führt die Vorstellung, dass Produktivitätssteigerungen durch KI automatisch zu besserer Vergütung für die Anwender führen, in die Irre. Es zeigt sich oft das Gegenteil. Die sogenannten „Produktivitätsgewinne“ führen häufig zu einer Umverteilung der Wertschöpfung, bei der nicht die Arbeiter, sondern vor allem die Steuerungsebenen oder Plattformunternehmen profitieren, die neue Koordinationslogiken definieren. Die Erfahrung aus Branchen wie dem Fast-Fashion-Segment oder der Musikindustrie ist exemplarisch: Während eine höhere Arbeitsleistung technisch möglich wird, sinkt im gleichen Zuge der Wert, den einzelne Akteure erhalten.
Das Ergebnis sind steigende Anforderungen bei stagnierenden oder sogar rückläufigen Löhnen – ein Phänomen, das man auch im Kontext von KI zunehmend beobachten kann. Darüber hinaus ist die Fixierung auf die individuelle Nutzung von KI als Wettbewerbsvorteil trügerisch. So wurden beispielsweise Berufsbilder wie der des Typisten durch technologische Neuerungen nicht einfach durch Digitalisierung ersetzt, sondern durch eine Umgestaltung der gesamten Arbeitslandschaft infrage gestellt. Die Fähigkeit zu tippen blieb zwar relevant, verschob sich aber von einer spezialisierten Fähigkeit hin zu einer Grundkompetenz, die in vielfältigen Rollen eingebettet ist. Dies zeigt, dass die grundlegende Frage nicht lautet, ob „du“ oder „jemand mit KI“ eine Aufgabe besser erledigen kann, sondern ob die Rolle selbst in der zukünftigen Systemkonfiguration noch Sinn macht.
Auch die Kontinuität von Arbeitsabläufen als Konstante zu betrachten, ist eine Fehleinschätzung. KIs und neue Technologien führen oft zu einer Neugestaltung von Prozessen, bei der traditionelle Arbeitsschritte entweder umgangen oder völlig neu organisiert werden. Wie der Einsatz von Videotechnologie im Cricket die Entscheidungsfindung und die Machtverhältnisse innerhalb eines Spiels nachhaltig verändert hat, zeigt sich auch in Unternehmen, in denen KI nicht nur bestehende Prozesse beschleunigt, sondern Arbeitsschritte zwischen Teams verschiebt oder überflüssig macht. Damit sind Anpassungen auf der Prozess- und Organisationsebene unumgänglich und nicht einfach durch individuelles Lernen neuer Tools zu bewältigen. Die Vorstellung, KI sei ein neutrales Werkzeug, das allein von den Nutzern gestaltet werde, erscheint gleichfalls zu kurz gegriffen.
Technologien besitzen immer implizite Gestaltungspräferenzen, die Einfluss auf Organisationsstrukturen, Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse haben. Ein klassisches Beispiel ist die Dominanz von Excel-Anwendern in den 1990er Jahren, deren Einfluss oft auch Machtpositionen in Unternehmen stärkte. KI kann nun ähnlich die Positionsverhältnisse durch Verschiebung der Entscheidungskompetenzen verändern – und somit Gewinner und Verlierer innerhalb der Organisation definieren. Schließlich darf man das trügerische Gefühl nicht unterschätzen, dass solange der eigene Job scheinbar unverändert bleibt, man in Sicherheit sei. Gerade wenn KI vorwiegend augmentativ eingesetzt wird, besteht die Gefahr, dass zwar weiterhin Jobs bestehen, deren Wert und Vergütung aber sinken.
Dies wird besonders deutlich in der Musikbranche, wo session musicians trotz steigender Arbeitsmenge aufgrund von Streaming und verändertem Erlösmodell weniger verdienen, weil der Wertbezug zwischen Expertise und Lohn entkoppelt wurde. Ein ähnliches Szenario droht bei der Nutzung von KI, wenn Durchschnittskompetenzen durch Augmentation angehoben werden und dadurch Expertenstatus und entsprechende Vergütung an Bedeutung verlieren. Auch Unternehmen begehen oft den Fehler, KI als „Feature“ zu betrachten, das lediglich bestehende Prozesse verbessert, ohne die dahinterliegenden organisatorischen und strategischen Notwendigkeiten einer tiefgreifenden Umgestaltung zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: KI wird als Betriebsystemaktualisierung missverstanden, obwohl sie eine völlig neue Systemarchitektur und Logik voraussetzt. Nur wer die Organisation als veränderbares System versteht und konsequent neu ausrichtet, kann die Potenziale tatsächlich nutzen und sich in einer KI-geprägten Zukunft behaupten.
Fazit ist, dass die allzu oft zitierte Eindeutigkeit von „KI wird dir nicht den Job wegnehmen, aber jemand, der KI nutzt, wird es tun“ ein trügerisches Halbwissen darstellt, das zu einer falschen Sicherheit führt. Wirkliche Bewältigung der Herausforderung erfordert das Verschieben des Blickwinkels von der Einzelaufgabe hin zu den Erneuerungen auf Systemebene – zu neuen Arbeitsarchitekturen, geänderten Machtverhältnissen, veränderten Wertschöpfungsdynamiken und der Bereitschaft zur radikalen Anpassung. Nur so lässt sich vermeiden, ähnlich wie die Franzosen mit der Maginot-Linie, wahre Innovation zu verpassen und in einem scheinbar sicheren, aber letztlich nutzlosen Status zu verharren. Die Zukunft der Arbeit mit KI ist eine Herausforderung, die nicht nur technisches Können, sondern tiefes Verständnis für systemisches Denken und Wandel verlangt – und vor allem den Mut, die eigenen Vorstellungen von Arbeit, Job und Wertschöpfung grundsätzlich zu hinterfragen und neu zu gestalten.