Marcel Ophuls, der am 26. Mai 2025 im Alter von 97 Jahren in Frankreich verstarb, hinterlässt ein beeindruckendes filmisches Erbe, das die Art und Weise, wie der Zweite Weltkrieg, insbesondere die Besatzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten, betrachtet wird, tiefgreifend veränderte. Geboren in Deutschland, wuchs Ophuls in einem von politischen Umwälzungen geprägten Umfeld auf, das sicherlich seine späteren filmischen Arbeiten beeinflusste. Sein bekanntestes Werk, "The Sorrow and the Pity" (deutsch: "Le Chagrin et la Pitié" – "Der Kummer und das Mitleid"), hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen und gilt heute als Meilenstein des Dokumentarfilms. Der Film, der erstmals 1969 veröffentlicht wurde, untersuchte die Realität des französischen Lebens während der Nazi-Besatzung anhand der Stadt Clermont-Ferrand, einer industriellen Stadt im Herzen Frankreichs.
Ophuls gelang es, einen vielschichtigen und differenzierten Einblick zu vermitteln, der den weit verbreiteten Mythos der flächendeckenden französischen Widerstandsbewegung während des Krieges grundlegend hinterfragte. Durch intensive Interviews mit verschiedenen Menschen – von Ladenbesitzern, Bauern und Bankern bis hin zu Lehrern und Juristen – offenbarte der Film eine Gesellschaft, die nicht nur aus Helden und Widerstandskämpfern bestand, sondern auch aus Mitläufern und Kollaborateuren. Die Veröffentlichung des Films war ein Wendepunkt. In einem Zeitraum, in dem Frankreich versuchte, die Narben des Krieges zu heilen und ein heroisiertes Bild des Widerstands aufrechtzuerhalten, bewirkte Ophuls‘ Werk heftige Reaktionen. Viele Zuschauer waren schockiert und emotional bewegt, Politiker verurteilten das Werk als anklagend und verleumderisch gegenüber der französischen Nation.
Die Tatsache, dass "The Sorrow and the Pity" bis 1981 im französischen Fernsehen verboten war, zeigt, wie tiefgehend die Debatte war, die der Film auslöste. Der Mythos, den Ophuls zerstörte, war lange Zeit zentral für das nationale Selbstverständnis Frankreichs. Charles de Gaulle, der Anführer der freien französischen Kräfte im Exil, propagierte ein Bild eines vereinten und unbesiegbaren Widerstands gegen die deutschen Besatzer. Dieses Bild diente nach dem Krieg dazu, die nationale Identität wiederherzustellen und das traumatische Kollaborationskapitel zu verschleiern. Ophuls’ Film zwang die Öffentlichkeit jedoch dazu, die Schattenseiten dieses Kapitels nicht länger zu ignorieren, und stellte unbequeme Fragen zur Moral, Schuld und Verantwortung im Kontext von Besatzung und Krieg.
Ophuls selbst äußerte sich in Interviews wiederholt dazu, dass es nicht seine Absicht war, die Franzosen zu verurteilen, sondern vielmehr eine ehrliche und nüchterne Auseinandersetzung mit der Geschichte zu fördern. Sein empathischer und zugleich kritischer Blick machte das Werk zu einem einzigartigen historischen Dokument, das viele traditionelle Interpretationen in Frage stellte. Er stellte die komplexe Bedeutung von Mitläufertum, Kollaboration und Widerstand dar, ohne dabei einfache Urteile zu fällen. Abgesehen von "The Sorrow and the Pity" drehte Ophuls zahlreiche weitere Filme, die sich mit historischen und politischen Fragen auseinandersetzten. Seine Filmografie zeichnet sich durch einen investigativen und reflektierenden Stil aus, der oft kontroverse gesellschaftliche Themen beleuchtete und Zuschauer dazu anregte, eigene moralische und historische Urteile zu hinterfragen.
Das Erbe von Marcel Ophuls ist mehr als nur sein filmisches Werk. Er trug maßgeblich dazu bei, wie Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur funktioniert, insbesondere im Umgang mit Krieg und Besatzung. Seine Dokumentationen verstärken das Bewusstsein darüber, dass Geschichte nicht aus einfachen Helden- und Schurkenrollen besteht, sondern aus komplexen menschlichen Erfahrungen, die es ehrlich zu reflektieren gilt. Die Bedeutung von "The Sorrow and the Pity" reicht bis heute weit über Frankreich hinaus. Der Film wird international als kritischer Gegenpol zur Verklärung von Geschichte betrachtet und ist Teil eines wichtigen Diskurses über nationale Erinnerung, Verantwortung und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen.
In Zeiten, in denen historische Narrative oft politisch instrumentalisiert werden, erinnert Ophuls’ Arbeit daran, wie wichtig es ist, die Wahrheit nüchtern und vielschichtig zu betrachten. Marcel Ophuls starb im hohen Alter, hinterlässt jedoch ein bleibendes Vermächtnis. Seine Stimme und seine Filme inspirieren weiterhin Filmemacher, Historiker sowie das breite Publikum, sich offen und kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im Zeitalter der digitalen Medien erfährt sein Werk neue Aufmerksamkeit, da es wertvolle historische Einblicke bietet und gleichzeitig die Notwendigkeit zeigt, Geschichte kontinuierlich neu zu denken und zu hinterfragen. Sein Engagement für eine differenzierte und tiefe Betrachtung des Zweiten Weltkriegs zeigt, dass die Verarbeitung von Vergangenem nicht mit der Zeit verblassen darf.
Vielmehr ist es Aufgabe jeder Generation, die komplexen Mechanismen von Macht, Widerstand und Kollaboration zu verstehen und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Marcel Ophuls wird als Pionier des dokumentarischen Kinos in Erinnerung bleiben, dessen Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, und dessen künstlerische Vision es schafften, die Erzählung einer ganzen Nation herauszufordern und neu zu definieren.