Schimpansen zählen zu den menschlichen nächsten Verwandten und faszinieren seit Langem durch ihr komplexes Verhalten und ihre Intelligenz. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Uganda bringt jedoch neue und überraschende Erkenntnisse ans Licht: Wild lebende Schimpansen im Budongo-Wald verwenden Heilpflanzen als eine Art natürliche Erste-Hilfe-Maßnahme. Diese Entdeckung ist nicht nur bemerkenswert, weil sie ein weiteres Beispiel für die ausgeprägte Anpassungsfähigkeit und das Problemlösungsverhalten der Tiere zeigt, sondern sie erweitert auch unser Wissen über die Fähigkeit von Tieren zur Selbstmedikation und Empathie.Wissenschaftler der Universität Oxford arbeiteten mit einem lokalen Team zusammen, um das Verhalten der Schimpansen in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten und in mehreren Fällen zu filmen. Die Aufnahmen dokumentieren, wie die Tiere Pflanzen auswählen, zerbeißen und das Pflanzenmaterial gezielt auf offene Wunden oder Verletzungen auftragen.
Besonders beeindruckend ist, dass die Schimpansen nicht nur sich selbst behandeln, sondern gelegentlich auch anderen Individuen im Rudel helfen, was auf eine soziale Komponente der Heilpflanzenanwendung hinweist.Diese Verhaltensweise wurde bereits vor einiger Zeit entdeckt, als Wissenschaftler feststellten, dass Schimpansen bestimmte Pflanzen gezielt aufnehmen, wenn sie krank sind. Die neuen Filmaufnahmen und Beobachtungen bestätigen und erweitern diese Erkenntnisse erheblich. Die Tiere verfügen über ein umfangreiches Repertoire unterschiedlichster Verhaltensweisen, mit denen sie ihre Gesundheit in freier Wildbahn erhalten und Verletzungen behandeln. Die Anwendung von Pflanzen als natürliche Arzneimittel spielt dabei eine zentrale Rolle.
Das umfasst nicht nur das Auftragen von zerbissenen Blättern auf Wunden, sondern auch Hygienemaßnahmen wie das Entfernen von Parasiten oder das Reinigen nach der Ausscheidung.Eine der führenden Forscherinnen, Dr. Elodie Freymann, hebt hervor, dass das Verhalten der Schimpansen noch vielschichtiger ist als bisher angenommen. Der Einsatz von Pflanzenmaterial mit antibakteriellen Eigenschaften dient dazu, Infektionen vorzubeugen und die Heilung zu unterstützen. Die verwendeten Pflanzenarten wurden im Labor untersucht, wobei sich herausstellte, dass viele von ihnen echte medizinische Wirkung besitzen.
Diese natürlichen Heilmittel fungieren somit als eine Art biologisches Erste-Hilfe-Set, das den Tieren hilft, in einer oft lebensfeindlichen Umwelt zu überleben.Das besondere Augenmerk liegt jedoch auf dem sozialen Aspekt dieser Verhaltensweisen. Die Dokumentation zeigt nicht nur, wie Schimpansen ihre eigenen Verletzungen behandeln, sondern auch, wie sie verletzt Angehörigen oder sogar fremden Artgenossen helfen. Dieses Verhalten ist unter Tieren selten und zeigt eine bemerkenswerte Empathie – eine Eigenschaft, die lange als typisch menschlich galt. Indem sie beispielsweise Schaden anders erleidenden Gruppenmitgliedern oder sogar anderen Tieren die Verletzungen versorgen oder gewonnene Pflanzenteile weiterreichen, demonstrieren die Schimpansen, dass sie soziale Bindungen pflegen und Verantwortung für andere übernehmen.
Die Erkenntnisse resultieren zudem aus einer umfangreichen Sammlung von Beobachtungen, die über drei Jahrzehnte im Budongo-Wald zusammengetragen wurden. Forscher, lokale Mitarbeiter und Besucher haben Verhaltensnotizen verfasst, die wertvolle Einblicke in das Leben der Tiere bieten. Diese Logbücher dokumentieren neben erkennbaren „Ersthelferaktionen“ auch kuriose Mimiken oder Gewohnheiten, die menschlichen Hygienepraktiken verblüffend nahekommen. Ein Beispiel beschreibt einen Schimpansen, der Blätter dazu verwendet, sich nach dem Toilettengang zu säubern – ein Zeichen für das Bewusstsein von Sauberkeit und Selbstfürsorge.Das Interesse der Wissenschaft an solchen Verhaltensweisen ist groß, denn sie eröffnen neue Forschungsansätze für Medizin und Biologie.
Die Fähigkeit von Schimpansen, Heilpflanzen gezielt einzusetzen, legt nahe, dass diese Kenntnisse über viele Generationen weitergegeben wurden und Teil ihrer kulturellen Intelligenz sind. Gleichzeitig können die aktiven Inhaltsstoffe der verwendeten Pflanzen möglicherweise neue Wirkstoffe für die Behandlung menschlicher Krankheiten hervorbringen. Das Studium der natürlichen Apotheken der Wälder eröffnet somit vielversprechende Wege, traditionelle und neue Heilmethoden miteinander zu verbinden.Auch andere Menschenaffen zeigen ähnliche Verhaltensweisen. Kürzlich wurde zum Beispiel ein Orang-Utan beobachtet, der mit zerkauten Blättern eine Gesichtsverletzung behandelte.
Diese Parallelen weisen darauf hin, dass das Wissen über natürliche Arzneimittel möglicherweise in der evolutionären Vergangenheit dieser Arten verankert ist und sich durch ähnliche ökologische Herausforderungen entwickelt hat.Die neuen Erkenntnisse zwingen uns auch dazu, unser Verständnis darüber zu überdenken, wie eng Mensch und Tier in kognitiver und emotionaler Hinsicht zusammenhängen. Die vermeintlich ausschließlich menschliche Fähigkeit zur Empathie, zu sozialem Lernen und zum Gebrauch von Heilmitteln wird zunehmend durch Verhaltensforschung widerlegt. Schimpansen scheinen über ein erstaunliches Wissen über ihre Umwelt und deren Ressourcen zu verfügen – Wissen, welches sie nicht nur zum Überleben, sondern auch zur gegenseitigen Unterstützung nutzen.Letztlich wird deutlich, wie wenig wir noch über die geheimen Fähigkeiten und das Wissen der Natur tatsächlich wissen.
Dr. Freymann bringt es treffend auf den Punkt, wenn sie sagt, dass ein Mensch, der ohne Essen und Medizin im Wald ausgesetzt wäre, kaum überleben könnte. Schimpansen hingegen sind in ihrer Umgebung fest verwurzelt, sie verstehen und nutzen die Natur in einem Maße, das uns oft verborgen bleibt. Ihr Verhalten offenbart die Komplexität von Ökosystemen und zeigt, wie essenziell es ist, diese Lebensräume zu schützen.Die neue Studie der Universität Oxford öffnet für die Allgemeinheit ein Fenster zu dieser faszinierenden Welt.