In modernen Gesellschaften und Organisationen nehmen Bürokratien eine zentrale Rolle ein. Sie sorgen für Struktur, Verwaltung und kontrollieren den Ablauf vieler Prozesse – vom kleinen Unternehmen bis zum mächtigen Staat. Doch während Bürokratien wohl die komplexesten sozialen Gebilde sind, die wir kennen, wachsen sie oft nicht durch Vereinfachung, sondern durch die zunehmende Komplexität der Regeln. Kevin Corcoran fasst in seinem Beitrag „Fewer Rules, Better People: The Laws of Bureaudynamics“ die Erkenntnisse von Barry Lam zusammen, die eine kritische Reflexion darüber anbieten, warum zunehmende Reglementierung nicht zwangsläufig zu besseren Ergebnissen führt, sondern oft im Gegenteil mehr Probleme schafft. Das zentrale Anliegen liegt darin, die sogenannte Legalismus-Dynamik zu verstehen, die Organisationen dazu treibt, Regeln nicht weniger kompliziert, sondern ständig komplexer zu machen – ein Prozess, der als die Gesetze der Bureaudynamik bezeichnet wird.
Die entstandenen Regelwerke dienen zwar oftmals der vermeintlichen Fairness und dem Schutz vor Willkür, fangen jedoch an, das zu untergraben, was für das Funktionieren von Organisationen essenziell ist: Vertrauen, Flexibilität und die menschliche Fähigkeit zur Ausübung von Ermessen. Das erste Gesetz der Bureaudynamik besagt, dass Regeln und deren Verwaltung im Zeitverlauf immer komplexer und umfangreicher werden, nie kürzer oder einfacher. Dieses Phänomen lässt sich in vielen Organisationen beobachten: Kleine Unternehmen und Startups beginnen häufig mit offenen, flexiblen Richtlinien, die den Mitarbeitenden viel Spielraum lassen. Je mehr die Organisation wächst, desto umfänglicher werden die Vorschriften und Arbeitsanweisungen – bis hin zu Gesetztekonstrukten, in denen auf zahlreiche Szenarien detailliert eingegangen wird. Die Motivation hinter dieser Entwicklung liegt in einem grundsätzlichen Bedürfnis nach Fairness und konkreter Orientierung: Regeln müssen klar und verständlich sein, damit Menschen wissen, was von ihnen erwartet wird und um willkürliche Entscheidungen zu vermeiden.
Hier zeigt sich der sogenannte Guidanz-Wert (guidance value) von Regeln, also die Fähigkeit der Vorschriften, den Betroffenen klar anzugeben, wie sie sich korrekt verhalten können. Zugleich geht es auch um den Prozesswert (process value) der Regeln, der für diejenigen gilt, die sie durchsetzen. Für eine konsequente und gerechte Anwendung müssen auch Vollstreckerinnen und Vollstrecker genau wissen, wann eine Regel verletzt wird. Ein Beispiel zur Veranschaulichung ist das komplexe Rausch-Ordinanzgesetz einer Stadt, das nicht nur unterschiedliche zulässige Lautstärkepegel nach Ort, Ereignis und Tageszeit regelt, sondern auch vorschreibt, dass der Geräuschpegel an einer einzelnen Immobilie eine bestimmte Schwelle relativ zum Umgebungsgeräusch nicht überschreiten darf. Für die Bürger ist dieses Regelwerk kaum verständlich – ohne Messgeräte und Fachwissen bleibt der Normgehalt abstrakt – während die entsprechenden Behörden mit den technischen Hilfsmitteln schnell Klarheit schaffen können.
Die Motivation für derartige Gesetzesdichte ist tief in menschlichem Misstrauen verwurzelt. Dieses Misstrauen übt auf Regelmacher wie auch Regelanwender erheblichen Druck aus, alle möglichen Schlupflöcher zu schließen und jede potenzielle Ausnahme explizit zu regeln. Gesetzgeber argumentieren im Grunde, dass die Regeln so gestaltet sein müssen, dass sie selbst von den findigsten und unehrlichsten Menschen nicht zu umgehen sind. Doch dieses Streben nach Sicherheit und Vorhersehbarkeit auf allen Seiten führt wiederum zu einer weiteren Komplexitätssteigerung. Gleichzeitig bedingt Misstrauen gegenüber den Behörden selbst, dass Bürger oftmals auf eine sehr präzise und eindeutige Regelung drängen, die den Spielraum der Vollstrecker strikt eindämmt.
So entstehen Gesetze mit strengen Vorgaben und möglichst eingeschränkten Interpretationsmöglichkeiten, um Willkür oder Machtmissbrauch vorzubeugen. Daraus ergibt sich das zweite Gesetz der Bureaudynamik: Die Kräfte, die Discretion – also den Ermessensspielraum bei Entscheidungen – einzuschränken, sind größer als jene, die sie erweitern wollen. Rechtsprechung und Gesetzgebung haben immer wieder betont, dass unklare und vage Vorschriften nichtig sein können, wenn sie unzumutbare Unsicherheiten schaffen. Die vielzitierte „void for vagueness“-Doktrin des US Supreme Court hebt die Bedeutung der Verständlichkeit von Gesetzen hervor: Normen dürfen für den Durchschnittsbürger nicht so unklar sein, dass sie nicht erkennen können, wie sie sich verhalten sollen. Ebenso dürfen sie nicht zur unkontrollierten Anwendung durch Behörden führen, die dadurch willkürlich oder diskriminierend agieren könnten.
Diese strenge Haltung gegenüber Interpretationsspielräumen zumeist zugunsten scharf abgegrenzter Regeln spiegelt ein tiefsitzendes Misstrauen in die Fähigkeit von Amtsträgern und Bürgern wider, angemessen mit Spielräumen umzugehen. Misstrauen wird somit zum zentralen Motor dieser Dynamik hin zum Legalismus, die es zunehmend erschwert, wieder mehr Vertrauen zu gewinnen. Denn während Vertrauen schwer zu gewinnen ist, reicht ein einziger Vertrauensbruch aus, um es nachhaltig zu beschädigen. Ein öffentlichkeitswirksamer Fall von Regelumgehung, der ungestraft bleibt, ist oft ausreichend, ganze Institutionen in eine rigide, überbürokratisierte Rechtsstaatlichkeit zu treiben. Konsequenterweise nimmt die Anzahl der Regeln zu: zusätzliche Vorschriften, immer mehr Kontrollinstanzen und eine Flut von Compliance-Offizieren entstehen, die womöglich eher die Verwaltungsapparate belasten, als sie zu erleichtern.
Dabei ist keineswegs jede Form von Legalismus unnütz oder schädlich. Im abstrakten Sinn schützt der genaue und präzise Regelkatalog vor Willkür und sorgt für eine klare Rechtslage. Nur liegt die reale Wirkung oft darin, dass komplexe Vorschriften zu Verzögerungen, Überregulierung und erstickenden bürokratischen Strukturen führen, die auf Flexibilität und Menschlichkeit verzichten. Was bedeutet dies für die Praxis? Wo immer Organisationen wachsen, müssen sie Mittel und Wege finden, die Kontrolle und die notwendige Struktur mit dem Beitrag und der Autonomie ihrer Mitglieder in Einklang zu bringen. Entscheidend ist, dass nicht nur Regeln geschaffen werden, sondern dass auch Vertrauen aufgebaut wird – und zwar auf beiden Seiten.
Führungskräfte können durch Transparenz in der Anwendung von Ermessenspielräumen dazu beitragen, Missverständnisse und Gefühle von Ungerechtigkeit zu verhindern. Die bewusste Einräumung von Freiräumen kann, wenn ehrlich kommuniziert und klar gehandhabt, sogar die Loyalität und Motivation erhöhen. Vertrauen ist dabei kein Netz, das Regelwerke vollständig ersetzen kann, aber es ist das Schmiermittel, das die Maschinen der Bürokratien überhaupt erst reibungslos laufen lässt. Ebenso unumgänglich bleibt die Einsicht, dass ein Maß an Diskretion nie ganz ausgeklammert werden kann. Die Anforderungen und Situationen sind zu vielfältig und wandelbar, als dass sich alles in strengen Normen und Paragraphen erfassen ließe.
Daher lädt das Spannungsfeld zwischen Legalismus und Ermessen immer wieder zu neuem Nachdenken ein. Die Untersuchung von Barry Lam bietet hierfür erste Grundlagen, aber auch Ansätze für zukünftige Überlegungen – etwa, wie man systematisch mehr Raum für vertrauensvolle Ermessen schaffen kann, ohne die Grundwerte von Fairness und Rechtssicherheit zu kompromittieren. Letztlich kann das Plädoyer für „weniger Regeln, bessere Menschen“ als ein Aufruf verstanden werden, Bürokratien nicht als starre Regelwerke, sondern als lebendige soziale Organismen zu betrachten, die sich immer aufs Neue zwischen Struktur und Freiheit austarieren müssen. Durch diese Balance kann nicht nur die Effizienz, sondern vor allem das zwischenmenschliche Klima in Organisationen verbessert werden – zugunsten einer Kultur, die Menschen als verantwortliche Akteure ernst nimmt und ihnen die Chance gibt, ihr Potenzial zu entfalten.