Paul de Man zählt zu den kontroversesten Figuren der modernen Literaturwissenschaft. Seine theoretischen Arbeiten haben Generationen von Studierenden und Forschenden geprägt, doch sein Leben birgt eine dunkle Wahrheit, die erst nach seinem Tod ans Licht kam und die akademische Welt in einen tiefen Skandal stürzte. Die Enthüllungen seiner Kollaboration mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs stellen nicht nur seine Person, sondern auch seine wissenschaftliche Arbeit vor schwerwiegende Fragen. Sie werfen die Frage auf, ob sich ethische Verfehlungen von der intellektuellen Leistung trennen lassen und wie eine Gesellschaft mit solchen widersprüchlichen Biografien umgeht. In seiner komplexen Geschichte spiegeln sich die Spannungen wider, die zwischen individueller Verantwortung, historischer Vergangenheitsbewältigung und wissenschaftlicher Integrität bestehen.
Geboren im Jahr 1919 in Belgien wuchs de Man in einer wohlhabenden, intellektuellen Familie auf. Sein Onkel Henri de Man war ein bekannter sozialistischer Politiker, der während der deutschen Besetzung Belgiens ebenfalls als Kollaborateur in Erscheinung trat. Paul durchlebte traumatische Kindheitserlebnisse, die von familiären Krisen und einem frühen Verlust geprägt waren. Die Selbstmorde seiner Mutter und der tragische Tod seines Bruders hinterließen tiefe Spuren. Nach einem unbeständigen Studium wechselte Paul de Man verschiedene Fächer und verließ die Universität ohne Abschluss, bevor er in die Bewegung der Nazi-Kollaborateure eintrat.
Während der deutschen Besatzung Belgiens schrieb de Man zahlreiche Artikel für nazistische und pro-deutsche Zeitungen, darunter Le Soir, die unter deutscher Kontrolle stand. In seinen Beiträgen propagierte er nationalsozialistische Ideologien, verherrlichte die germanische Kultur und vertrat antisemitische Positionen. Diese Phase seiner Karriere wurde erst Jahrzehnte später durch einen belgischen Studenten aufgedeckt, der Forschungsakten zu de Man im Archiv fand. Die Öffentlichkeit und vor allem die akademische Gemeinschaft reagierten mit Entsetzen und entscheidender Skepsis. Bis dahin galt de Man als ein intellektueller Vordenker der literaturtheoretischen Schule „Deconstruction“.
Viele seiner Schüler und Kollegen sahen in ihm einen brillanten Meister des „rhetorischen Lesens“, der die Instabilität von Sprache und Bedeutung in literarischen Texten eindrucksvoll herausarbeitete. Sein theoretischer Ansatz fußte auf der Überzeugung, dass literarische Sprache durch rhetorische Mittel stets Mehrdeutigkeiten erzeugt und dass der Leser von seinen eigenen Denkgewohnheiten befreit werden müsse, um die komplexen Bedeutungsstrukturen eines Textes zu erfassen. Einer seiner bekanntesten Gedanken wird anhand eines Verses von W. B. Yeats illustriert („How can we know the dancer from the dance?“), der gleichzeitig eine Frage und deren Verneinung ist und somit das Spannungsfeld von Literalität und Figurativität symbolisiert.
De Man sah in Literatur eine besondere Form der Selbstreflexion über Sprache und Interpretation, die philosophische Absolutheiten auflöst. Nach dem Krieg emigrierte de Man in die USA, baute sich dort eine akademische Karriere auf und wurde zu einer zentralen Figur der literaturwissenschaftlichen Szene, insbesondere an renommierten Institutionen wie Cornell, Johns Hopkins und Yale. Trotz zahlreicher persönlicher Turbulenzen wegen Betrugs, Ehebruch und zahlreichen Lügen über seine Biografie gelang es ihm, sich als Vordenker und Lehrer einen exzellenten Ruf zu schaffen. Erst einige Jahre nach seinem Tod 1983 wurden seine Kollaborationsjahre dank aufmerksamer Archivforschung bekannt und entfachten eine heftige Debatte. Die Reaktionen auf die Enthüllungen waren vielschichtig: Viele seiner Bewunderer wollten die literarische Arbeit strikt von dem moralischen Fehlverhalten trennen.
Andere warfen de Man vor, mit seiner Theorie gewissermaßen selbst ein intellektuelles Fundament zu haben, das moralische Verantwortung leugnet und dabei die Ideologie seiner Vergangenheit verschleiert. Die Verteidiger betonten, dass sein kritisches Werk eher zur Selbstreflexion und zum Zweifel einlade und daher im Gegenteil ethische Sensibilität fördere. Dennoch entstand eine tiefe Vertrauenskrise in den sogenannten „Yale School“ der Literaturtheorie, die viele mit de Man und seinem engen Freundeskreis um Jacques Derrida, Geoffrey Hartman und J. Hillis Miller assoziierten. Der Fall de Man zeigt exemplarisch, wie die Herausforderungen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der Aufarbeitung von Kollaboration in akademischen Kontexten nicht nur eine moralische Dimension besitzen, sondern auch tief in erkenntnistheoretische und interpretative Fragen hineinwirken.
De Man selbst wurde als eine gespaltene Persönlichkeit beschrieben: Einerseits charismatisch, brillant und rigoros, andererseits ein skrupelloser Täuscher, der mit Betrug und Lügen seinen eigenen Aufstieg vorantrieb. Diese Mischung führte dazu, dass seine Figur bis heute ein Sinnbild für die Ambivalenz von Intellekt und Moral in der Wissenschaft ist. Seine enge Zusammenarbeit und Freundschaft mit Jacques Derrida, dem Begründer der Dekonstruktion, war ein prägendes Element seiner akademischen Laufbahn. Derrida selbst, der auch mit eigener belasteter Vergangenheit kämpfte, reagierte ambivalent auf die Enthüllungen und versuchte, die Kollaborationsartikel von de Man einer differenzierten hermeneutischen Analyse zu unterziehen, was in der akademischen Welt teils als Entschuldigung, teils als Versuch der Verdrängung betrachtet wurde. Die Debatte erweiterte sich bald auf den größeren Diskurs um den Einfluss von Heidegger, dessen NS-Vergangenheit den philosophischen Hintergrund der Dekonstruktion mit einer weiteren ethischen Kontroverse verband.
Der Einfluss von Paul de Man auf die moderne Literaturwissenschaft und auf das, was heute als „Theorie“ in den Geisteswissenschaften verstanden wird, ist unbestritten. Seine Betonung der Vieldeutigkeit literarischer Texte und der Instabilität von Bedeutung hat das Feld nachhaltig geprägt. Gleichzeitig bleibt sein persönliches Erbe schwer belastet durch seine Verstrickung in die Ideologien des Nationalsozialismus und sein unmoralisches Verhalten im Umgang mit Familie und Freunden. Die Auseinandersetzung mit Paul de Man stellt heute eine Herausforderung dar, die weit über traditionelle Vorstellungen von Wissenschaft und Geschichte hinausgeht. Sie fordert eine kritische Reflexion darüber, wie intellektuelle Exzellenz und ethische Verantwortung in Einklang gebracht werden können und wie die Wissenschaft mit problematischen Biografien ihrer Repräsentanten umgeht.