Indien steht an einer potenziellen Wegmarke in seiner wirtschaftlichen Entwicklung und im Ausbau seines professionellen Dienstleistungssektors. Die indische Regierung erwägt die Schaffung sogenannter „heimischer Big-Four-Beratungsfirmen“, die mit den internationalen Branchengrößen Deloitte, PwC, EY und KPMG konkurrieren sollen. Dieses strategische Vorhaben zielt darauf ab, die zunehmende Abhängigkeit von ausländischen Beratungsunternehmen zu verringern und gleichzeitig die Kompetenz und Innovationskraft der inländischen Beratungsindustrie zu fördern. Die Idee wird von zentralen Regierungsstellen intensiv diskutiert und könnte bedeutende Veränderungen für die indische Unternehmenslandschaft nach sich ziehen.Das Wachstum der Big Four in Indien ist in den letzten Jahren bemerkenswert.
Die Umsätze der indischen Niederlassungen dieser globalen Konzerne haben rapide zugenommen, unterstützt durch Aufträge aus dem öffentlichen Sektor, von mittelständischen Unternehmen und staatlichen Privatisierungsprojekten. So beliefen sich die kombinierten Einnahmen der Big Four in Indien im Geschäftsjahr 2024 auf umgerechnet rund 4,52 Milliarden US-Dollar, mit einer Prognose von über 5,25 Milliarden US-Dollar für das Folgejahr. Diese Zahlen spiegeln das steigende Vertrauen der indischen Wirtschaft und Regierung in den Beratungsbedarf wider, tragen jedoch auch zur wachsenden Sorge um die dominante Stellung internationaler Beratungsfirmen bei.Der Anstoß zur Gründung heimischer Beratungsriesen ist eng mit der Vision der strategischen Autonomie Indiens verbunden. Die Regierung möchte die Abhängigkeit von ausländischen Know-how-Lieferanten verringern, insbesondere in Schlüsselbereichen wie Steuerberatung, digitale Governance und Infrastrukturmanagement.
Insbesondere bei staatlich relevanten Aufgaben, etwa dem Management öffentlicher Projekte oder der Begleitung von Unternehmensverkäufen, sind indische Institutionen darauf angewiesen, vertrauenswürdige und leistungsfähige Beratungsdienste aus dem Inland verfügbar zu haben. Die Entstehung eigener Big-Four-Firmen könnte somit auch das nationale Wirtschaftsgefüge und die Sicherheit des öffentlichen Sektors stärken.Ein hochrangiges Treffen unter Vorsitz von Shaktikanta Das, dem principal secretary des Premierministers, fand im Juni 2025 statt, um dieses Vorhaben gemeinsam mit Wirtschaftsberatern wie Sanjeev Sanyal eingehend zu analysieren und einen Fahrplan zu erarbeiten. Dabei wurde nicht nur die Machbarkeit geprüft, sondern auch diskutiert, wie man den heimischen Beratungsmarkt optimal fördern und die indischen Firmen dazu befähigen kann, global wettbewerbsfähig zu werden. Es wird deutlich, dass die indische Regierung Consulting zunehmend als eigenständige und strategisch wichtige Branche anerkennt, die weit über reine Audit- und Steuerdienstleistungen hinausgeht.
Das Vorhaben birgt vielfältige Herausforderungen und Chancen. Auf der einen Seite müssen die heimischen Beratungsunternehmen erheblich an Größe und Leistungsbreite gewinnen, um mit den Angeboten der internationalen Big Four mithalten zu können. Dies umfasst nicht nur Expertise in Consulting-Methoden, sondern auch den Ausbau von internationalen Netzwerken und digitalen Technologien. Auf der anderen Seite bietet die Initiative die Chance, neue Geschäftsfelder zu erschließen, etwa in der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, der nachhaltigen Infrastrukturplanung oder im Bereich des regulatorischen Managements. Indische Beratungsfirmen könnten sich durch lokales Marktwissen und kulturelle Nähe Vorteile verschaffen, die internationale Player nicht so leicht replizieren können.
Zudem ist vorgesehen, durch gezielte politische Maßnahmen und Anreize das Wachstum etablierter mittelgroßer indischer Beratungsunternehmen zu beschleunigen und den Markteintritt für neue Player zu erleichtern. Die Regierung erwägt dabei regulatorische Reformen, die verbesserte Rahmenbedingungen für den Wissensdienstleistungssektor schaffen. Förderprogramme könnten etwa Investitionen in Forschung und Entwicklung, digitale Weiterbildung und internationale Kooperationen umfassen. Dies würde die Qualität und Skalierbarkeit der Beratungsangebote erhöhen und die globale Sichtbarkeit indischer Firmen stärken.Im indischen Markt existieren bereits zahlreiche erfolgreiche mittelgroße Beratungsunternehmen, die als solide Basis für die angestrebte Branchenentwicklung dienen können.
Namen wie Grant Thornton Bharat, BDO India, Nangia Andersen und Dhruva Advisors sind in verschiedenen Segmenten etabliert und haben gezeigt, dass indische Expertise international wettbewerbsfähig sein kann. Die Herausforderung wird darin bestehen, diese Akteure durch Kooperationen, Fusionen und gezielte Expansion zu größeren, global agierenden Unternehmen zu formieren. Ein solcher Umbau verlangt nicht nur wirtschaftliche Ressourcen, sondern auch strategische Weitsicht und Innovationskraft.Die Digitalisierung spielt in diesem Prozess eine zentrale Rolle. Durch den Einsatz moderner Technologien können heimische Beratungsfirmen ihre Effizienz steigern, komplexe Datenanalysen ermöglichen sowie maßgeschneiderte Lösungen für Kunden entwickeln.
Die indische Regierung setzt verstärkt auf digitale Technologien auch bei öffentlichen Projekten und erwartet von beratenden Unternehmen, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen. In Verbindung mit der wachsenden Nachfrage nach digitalen Lösungen im Finanzsektor, bei regulatorischer Compliance und Projektmanagement sind exzellente technische Kompetenzen somit unabdingbar.Darüber hinaus verändert sich die globale Beratungslandschaft durch neue geopolitische und wirtschaftliche Dynamiken. Handelskonflikte, technologische Disruptionen und Anforderungen an Nachhaltigkeit führen zu einem Umdenken bei multinationalen Unternehmen und Regierungen. Indien möchte sich deshalb nicht nur als großer Kundennationenmarkt, sondern auch als Beratungszentrum mit eigenständiger Innovationskraft positionieren.
Die Schaffung eines starken inländischen Big-Four-Konzerns kann dabei als Botschaft an die internationale Wirtschaft verstanden werden, dass Indien künftig selbstbewusst seine Beratungsbedarfe decken und selbst Standards setzen will.Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fachkräftesicherung. Indiens großer Pool an qualifizierten Fachkräften, insbesondere im Bereich Wirtschaft, IT und Ingenieurwesen, bildet die Grundlage für den Ausbau der Beratungsbranche. Staatliche und private Bildungsprogramme werden zunehmend darauf ausgerichtet, Experten mit den notwendigen Fähigkeiten für die komplexen Beratungsaufgaben von morgen auszubilden. Die Kombination aus Talent und strategischer Förderung verspricht damit langfristig eine solide Basis zur Erreichung der ambitionierten Ziele.
Die Initiative steht jedoch auch vor kritischen Fragen. Wie lässt sich das Vertrauen in neue heimische Beratungsfirmen gegenüber bereits etablierten internationalen Giganten aufbauen? Welche Maßnahmen sind nötig, um Interessenkonflikte in der Zusammenarbeit mit Regierungen zu vermeiden? Wie können Qualität und Transparenz gewährleistet werden? All diese Themen sind Gegenstand aktueller Diskussionen, deren Antworten entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung des Vorhabens sein werden.Wichtig ist, dass das Ziel nicht nur darin besteht, einfache Konkurrenz zu schaffen, sondern ein nachhaltiges Ökosystem zu entwickeln, das Innovationen fördert, hochqualifizierte Arbeitsplätze schafft und gleichzeitig zur wirtschaftlichen Resilienz nationaler Unternehmen beiträgt. Die indische Beratungsszene befindet sich im Umbruch und blickt auf mögliche Jahrzehnte rasanten Wachstums, die Indien auf der globalen Beratungslandkarte sichtbarer machen könnten.In Summe gleicht die Schaffung indischer Big-Four-Berater einem strategischen Weckruf für die heimische Wirtschaft.
Sie verbindet wirtschaftspolitische Ambitionen mit dem Ziel, technologische Stärken, Bildungsressourcen und unternehmerisches Potenzial zu bündeln. Indien könnte damit nicht nur seine eigene Beratungsbranche auf ein neues Niveau heben, sondern auch das globale Innovations- und Dienstleistungsgefüge mitprägen. Falls die Umsetzung gelingt, steht eine neue Ära bevor, in der Indien als globaler Beratungsakteur mit heimischen Champions wahrgenommen wird – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu strategischer Selbstständigkeit und internationaler Wettbewerbsfähigkeit.