Im Zeitraum von September 1958 bis März 1959 unternahm eine außergewöhnliche Forschungsgruppe der Royal Society eine Expedition nach Südchile, die seither als ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte gilt. Dem Anlass entsprechend, anlässlich des hundertsten Jahrestags der Veröffentlichung von Charles Darwins bahnbrechendem Werk "On the Origin of Species", nahm die Expedition nicht nur den Evolutionsgedanken ins Visier, sondern lieferte auch wichtige Impulse für die damals neu aufkommende Theorie der Plattentektonik und das Verständnis über die historische Verteilung von Flora und Fauna auf der südlichen Hemisphäre. Die Expedition wurde maßgeblich vom britischen Zoologen Sir Martin Holdgate geleitet, welcher zusammen mit seinen Begleitern Hunderte von Fotografien, Tagebüchern und wissenschaftlichen Proben sammelte und so einen Schatz an Erkenntnissen hinterließ, der nun der modernen Forschung zugänglich gemacht wurde. Ursprünglich war eine umfassendere Reise rund um die südlichen Temperaturlagen geplant, die im Geist der Reise von Darwins HMS Beagle stehen sollte. Doch logistische Schwierigkeiten führten zu einer Konzentration auf Chiles südlichen Teil, der so detailliert und facettenreich untersucht wurde, wie es in dieser Form bis dahin selten der Fall war.
Die fünf Wissenschaftler der Expedition repräsentierten unterschiedliche Disziplinen und Nationen: Neben Holdgate waren der neuseeländische Botaniker Eric Godley, der Meeresbiologe George Knox, der Geologe William Watters sowie der chilenische Entomologe Guillermo Kuschel mit an Bord. Dieses internationale Team ermöglichte eine interdisziplinäre Herangehensweise an die Herausforderungen und Fragestellungen der Reise. Der Expeditionstross begann seine Erforschung in Santiago de Chile, wo wichtige Kontakte zum British Council und zur chilenischen Luftwaffe geknüpft wurden. Trotz Verzögerungen bei der Zollabfertigung zeigte sich die Gruppe unbeeindruckt und nutzte die Zeit für erste Erkundungen in den Anden, darunter Ausritte zu Pferd, die mit eindrucksvollen Fotografien dokumentiert wurden. Nachdem die Ausrüstung schließlich freigegeben wurde, führte die Reise per Zug und Flugzeug an die erste Forschungsstation Chepu auf der Westküste der Insel Chiloé.
Dieser Ort war sowohl aus ökologischer als auch geologischer Sicht von großem Interesse. Die Expedition stellte gezielt Arten und Landschaften gegenüber, die in Neuseeland, Australien und Südamerika gemeinsam vorkommen, wodurch Rückschlüsse auf vergangene Erdzeitalter und Kontinentalverschiebungen ermöglicht wurden. Wie die umfangreiche Sammlung an schlafenden Seegurken oder gepflegten Fröschen belegt, war die Dokumentation der Biodiversität ebenso essenzieller Bestandteil. Die folgenden Wochen waren geprägt von intensiver Feldarbeit, bei der der Regenwald und die Umgebung eingehend untersucht sowie zahlreiche Proben gesammelt wurden. Mit Abschluss des Aufenthalts in Chepu begann die Gruppe die Erkundung höher gelegener Regionen der San Pedro Gebirgskette auf Chiloé.
Ein ehemaliger Schafhof diente als Basislager für fünfzehn Tage, in denen besonders die Arten der Hochlandwälder und Grasländer katalogisiert wurden. Diese Landschaften boten nicht nur ökologische, sondern auch kulturhistorische Einblicke, etwa in das traditionelle Jagdverhalten, das von Kuschel dokumentiert wurde. Nach der Rückkehr in den Hauptort Castro und einer traditionellen asado-Barbecue-Feier setzte die Expedition per Schiff ihre Reise südlich fort bis Puerto Edén an der Ostküste der Wellington-Insel. Dieser Ort ist bekannt für sein extrem feuchtes und gemäßigtes Klima. Zusätzlich zur Naturbeobachtung konnten hier erstmals intensive Begegnungen mit der indigenen Bevölkerungsgruppe der Kawésqar stattfinden, deren Lebensweise und Traditionen die Forscher ausführlich dokumentierten.
Die Kawésqar besitzen einzigartige kulturelle Merkmale, etwa ihre langgezogenen Holzboote aus südamerikanischem Rotbuche, die kunstvoll und stabil zugleich sind. Ebenso wurden traditionelle Hausbauweisen und Handwerkstechniken erfasst. Die Fotografien aus Puerto Edén sind ein bedeutendes kulturelles Zeugnis, das die Verbindung zwischen Wissenschaft und ethnographischer Forschung unterstreicht. Als die chilenische Micalvi an Puerto Edén vorbeifuhr, schloss sich die Expedition der Reise mit dem Schiff durch die Fjorde Weg nach Punta Arenas an. Die Weihnachtszeit verbrachten sie gemeinsam mit der Crew auf der Insel Guarello.
Leider erreichten sie nach der Weiterfahrt Nachricht, dass persönliche Postsendungen und Delikatessen sie auf der Hauptstation verpasst hatten – ein subtiler Hinweis auf die Herausforderungen und Widrigkeiten, die selbst erfahrende Forschergruppen in abgelegenen Regionen bewältigen mussten. In Punta Arenas selbst stand die Erkundung von landwirtschaftlichen Betrieben und historischen Stätten auf dem Programm, bevor die Gruppe mit dem Flugzeug nach Puerto Williams auf der Insel Navarino reiste – der südlichsten Stadt der Welt. Dort wurde die Küstenlinie erneut umfassend untersucht und ein Camp in den Bergen hinter dem Ort errichtet. Exkursionen führten zudem zu den benachbarten Inseln Picton und Bertrand, wo sich die Forscher an kaum berührte Naturlandschaften wagten. Die Fotos der abgelegenen, naturbelassenen Regionen im äußersten Süden Chiles bieten bis heute einen Eindruck von einer Welt, die sich vom Einfluss menschlicher Zivilisation vergleichsweise fernhält.
Nach der Rückkehr nach Großbritannien organisierte die Expedition einen wissenschaftlichen Kongress, auf dem die vielfältigen Erkenntnisse präsentiert wurden. Die entstandenen Fachpublikationen fanden Platz in einer speziellen Ausgabe von Proceedings B der Royal Society, wodurch die Ergebnisse einem breiten Fachpublikum zugänglich gemacht wurden. Außerdem wurde eine Ausstellung der Forschungen auf einer Royal Society-Veranstaltung 1961 gezeigt und erhielt hohe Beachtung. Die neu katalogisierten Fotografien ermöglichen Forschern heute einen faszinierenden Blick zurück auf diese bedeutende Reise und dokumentieren zugleich eindrucksvoll die Lebensweisen der Menschen und die unberührte Natur in Südchile vor über sechs Jahrzehnten. Die Expedition zeigt exemplarisch, wie interdisziplinäre Forschung an einem kulturell und ökologisch komplexen Ort große Bedeutung erlangen und gewichtig zur Evolution der Wissenschaft beitragen kann.
Die vergleichende Analyse gemeinsam vorkommender Arten in Chile, Australien und Neuseeland ermöglichte wichtige Beiträge zum Verständnis der Plattentektonik und Biogeografie. Zugleich eröffnete die Begegnung mit den Kawésqar neue Perspektiven auf den Erhalt kultureller Vielfalt und indigenen Wissens. Die im Zuge der Reise entstandenen Dokumente und Fotografien sind mittlerweile ein wertvolles kulturelles und wissenschaftliches Erbe. Sie veranschaulichen eindrucksvoll die Herausforderungen des Forschungsalltags, die Schönheit und Vielfalt südchilenischer Landschaften und bieten Inspiration für zukünftige Expeditionen. Die Royal Society Expedition von 1958-59 ist somit ein Paradebeispiel für wissenschaftliche Beharrlichkeit, interdisziplinären Austausch und kulturelle Sensibilität, deren Auswirkungen auch heute noch in den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nachwirken.
Die Kombination aus Zoowissenschaft, Botanik, Geologie, Meeresbiologie und Ethnologie führte zu einem umfassenden Bild, das die vielseitigen ökologischen und kulturellen Verflechtungen der südlichen Hemisphäre offenlegt. Die von Sir Martin Holdgate initiierten und durchgeführten Arbeiten setzten Maßstäbe für Feldforschung und dokumentarische Genauigkeit. Die Expedition „Hill or High Water“ vereint so ein Kapitel Entdeckungs- und Wissenschaftsgeschichte mit dem vitalen Anliegen des Naturschutzes und der Anerkennung indigener Kulturen – Themen, die nach wie vor von großer gesellschaftlicher Bedeutung sind.