Das Café Central in Wien ist weit mehr als nur ein gewöhnliches Kaffeehaus. Es verkörpert einen Lebensstil und eine spezielle Atmosphäre, die sich tief in die Seele seiner Besucher eingräbt. Alfred Polgar, ein bedeutender Schriftsteller und Beobachter des Wiener Kaffeehauslebens, beschreibt in seiner Arbeit „Theorie des Café Central“ aus dem Jahr 1926 dieses Kaffeehaus als eine Art Mikrokosmos, dessen Wesen weit über die bloße Funktion eines Treffpunktes hinausgeht. Die Essenz des Café Central liegt gerade nicht darin, die Welt von außen zu beobachten, sondern vielmehr darin, ein Teil dieser Welt zu sein, ja, sogar ein Stück dieser besonderen Welt. Polgar illustriert das treffend mit dem Bild, dass niemand im Café Central ist, ohne selbst von dessen Atmosphäre eingefärbt und geprägt zu sein.
Die Frage, ob eine Person sich dem Café anpasst oder umgekehrt, lasse sich nicht eindeutig beantworten – es sei vielmehr ein wechselseitiger Prozess. Die Atmosphäre im Café Central lässt sich als eine einzigartige „spirituelle Stimmung“ beschreiben. Ein dichter, fast greifbarer Dunst, den Polgar als eine Art schweres, irisierendes Gas mit einem leichten Ammoniakgeruch umschreibt, durchdringt die Luft des Hauses. Diese besondere Stimmung fördert eine Art von „Unfähigkeit zum Leben“, für welche das Café jedoch zugleich der perfekte Ort ist, um zu gedeihen. Die Schwächen der Menschen entwickeln hier ihre ganz eigenen Kräfte, die sogenannten Früchte der Unfruchtbarkeit, während Besitzlosigkeit als wertvoll empfunden wird.
Nur wer ein echter „Centralist“ ist – also ein wahrer Insider dieser Welt –, erfährt die Tiefgründigkeit, die sich hinter dem alltäglichen Treiben verbirgt. Das Verlassen des Café Central wird dann empfunden wie ein gewaltsames Herausgeschmissenwerden ins Leben, in den kalten, unberechenbaren Alltag. Das Café Central liegt geographisch und metaphorisch am „Breitengrad der Einsamkeit“ in Wien. Seine regelmäßigen Gäste sind oft Menschen voller Widersprüche, die einerseits eine tiefe Abneigung gegen ihre Mitmenschen empfinden und andererseits ein ebenso heftiges Verlangen nach Gesellschaft hegen. Sie sehnen sich nach dem Alleinsein, benötigen aber zugleich die Begleitung anderer, um dieses Alleinsein überhaupt erleben zu können.
Diese Zerrissenheit prägt das soziale Gefüge des Hauses und lässt eine Atmosphäre des Suchens entstehen – nach sich selbst und gleichzeitig vor sich selbst fliehend. Für viele ist das Café Central eine Art Ersatzfamilie, ein Sozialraum, in dem sie ihre innere Zerrissenheit wenigstens vorübergehend etwas erträglicher gestalten können. Im Gegensatz zu anderen Lebensbereichen, seien es Familie, Beruf oder politische Zugehörigkeit, vermittelt das Café seinen Besuchern ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Eingebundenseins in ein größeres Ganzes. Das Kaffeehaus fungiert hier als eine Art „Ersatz-Totalität“, die in der Lage ist, eine Illusion von Gemeinschaft und Bedeutung zu schaffen. Ganz besonders Frauen, die selten wirklich allein sein können und auf zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen sind, fühlen sich vom Café Central magisch angezogen.
Das Haus bietet ihnen Schutzraum und Zuflucht vor der Konfrontation mit der so gefürchteten ungestörten Gemeinsamkeit von Paaren, ist ein Ort des Ablassens – von Zeit, Sorgen oder Lebenslasten. Das Café Central ist, so Polgar, eine „Organisation des Unorganisierten“. In einem Raum, der äußerlich vielleicht wenig ordnungspolitisch anmutet, finden sich doch subtile Bindungen und soziale Regeln, die den scheinbaren Chaoszustand zusammenhalten. Jeder Besucher ist hier eine Persönlichkeit, die innerhalb der Grenzen des Hauses einen Kredit an sozialer Anerkennung besitzt. Moralische Kosten werden in gewissem Sinn auf dieses Konto gebucht, und wer nicht bereit ist, die Anerkennung anderer zu akzeptieren, erlangt eine Art anti-bürgerliche Auszeichnung.
Die Anekdoten und Geschichten, die über die Besucher des Café Central kursieren, bilden das soziale Kapital, auf dem das Leben in diesem Haus basiert. Die Fakten über das tatsächliche Leben treten in den Hintergrund, werden fast zu Nebensächlichkeiten – wichtig ist das narrativ belebte Bild, das über jeden einzelnen erzählt wird. Die Besucher dieses Kaffeehauses kennen einander in- und auswendig, teilen Bewunderung, Liebe und Ablehnung, aber gerade diese ambivalenten Emotionen schaffen eine außergewöhnliche Form der Gemeinschaft. Gegenseitiger Widerwille dient hier als Kitt, der die einzelne Insel der Einsamkeit auch als Teil eines größeren Ganzen erfahrbar macht. Die Atmosphäre im Café Central ist vergleichbar mit dem Leben in einem Aquarium – die engeren Kreise seiner Bewohner drehen sich immer im selben kleinen Raum, beschäftigt mit absurden, ziellosen Aktivitäten, nähern sich einander aufs Engste an und sind trotzdem voller Erwartung und Sorge vor möglichen Veränderungen.
Gäbe es eine Umwandlung des Cafés, beispielsweise in eine Bank, so wäre das soziale Gefüge zusammengebrochen und die Bewohner verloren. Der besondere Geist des Hauses führt dazu, dass alle Hemmungen und Zurückhaltung schwinden. Die Besucher führen zum Teil ein Leben ohne Scham oder Zurückhaltung, können psychisch nackt auftreten, ohne falsch verstanden zu werden. Dabei ist das Café Central ein Ort der ironischen Selbstreflexion und des humorvollen Nachgebens gegenüber den eigenen Makeln. Ein kurioses Beispiel für die Eigenart dieses Ortes ist die Geschichte einer Palme, die der Besitzer einst zur Bereicherung der Atmosphäre aufgestellt hatte.
Sie konnte jedoch der dort herrschenden Klimatologie nicht standhalten und wurde schließlich zersägt – ob sie im Ofen als Brennholz oder in der Küche als Kaffeeersatz Verwendung fand, bleibt unklar. Wer das Café Central wirklich erlebt, benötigt keinerlei Zweck oder Ziel, um dort zu verweilen. Gerade die Ziellosigkeit des Aufenthalts macht ihn heilig. Viele Gäste empfinden eine Art unerklärliche Anziehungskraft, die über Gewohnheit hinausgeht. Für kreative Geister, wie Literaten oder Dichter, ist das Café Central ein Ort der Inspiration und des Fruchtbarmachens der eigenen Trägheit.
Gerade in diesem Raum ergibt sich erst der kreative Funke, und selbst jene, die kaum Gedanken fassen können, erleben hier eine überraschende Öffnung ihres Geistes. Das Café wird so zum Hort der stillen Revolution, des inneren Wachstums durch äußere Muße. Dieses einzigartige Haus ist aber auch ein Zufluchtsort für Menschen mit innerer Unruhe, die Polgar als „kosmische Unbehaustheit“ bezeichnet. Die lockeren Beziehungen unter den Besuchern, die Distanz zu größeren Gestirnen und selbst zu Gott lösen sich in einem augenzwinkernden Spiel des Zufalls und der Verantwortungsfreiheit auf. Die drohenden Unendlichkeiten wirken nicht herein bis zwischen die Wände des Cafés, hier herrscht die süße Gleichgültigkeit des Augenblicks.
Die sozialen Verflechtungen des Café Central umfassen auch Liebe, politische und literarische Strömungen sowie das Maskenspiel aus Witz und Torheit, das allabendlich den Raum wie ein Karneval durchzieht. Wer sich wirklich für das Haus interessiert, kennt diese Dynamiken aus erster Hand. Für Außenstehende bleibt das Wesen des Café Central möglicherweise unverständlich – es ist ein Ort, der nur von denen erfasst werden kann, die wirklich Teil seiner Welt sind. Was Alfred Polgar in seiner Beschreibung festhält, ist die Einzigartigkeit des Café Central in Wien, die kein anderes Kaffeehaus je wieder erreichen wird. Wie der Schriftsteller Knut Hamsun einst ganz allgemein über Christiania schrieb: „Niemand verlässt sie, ohne dass sie ihn geprägt hätte.