Die Kriminologie als akademisches Fachgebiet hat in den letzten Jahrzehnten signifikante Fortschritte erzielt, insbesondere bei der Formalisierung von Methoden, der Stärkung der wissenschaftlichen Strenge und der Verbesserung von Experimenten und Quasi-Experimenten. Dennoch herrscht unter Experten zunehmend die Ansicht vor, dass diese Fortschritte trotz ihres Werts die Praxis oft nur wenig verändern. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Kriminologie fast ausschließlich auf das Erlernen von Phänomenen fokussiert ist – man beobachtet, analysiert, bewertet und berichtet – anstatt aktiv zu handeln und direkte Verbesserungen zu initiieren. Diese Entwicklung birgt das Risiko, wiederholt in einer akademischen „Elfenbeinturm“-Mentalität gefangen zu bleiben, in der die Wissenschaftler mehr als passive Beobachter denn als Gestaltungsmächte agieren. Das Potenzial, durch praktische Innovationen das Straf- und Justizsystem nachhaltig zu transformieren, bleibt somit ungenutzt.
Gerade in einer Zeit, in der technologische Möglichkeiten rapide wachsen, erscheint es umso dringlicher, dass die Kriminologie den Schritt weg vom reinen Forschen hin zum Bauen vollzieht. Statistiken und quantitative Studien sind zweifellos wertvoll, um die Wirksamkeit bestimmter polizeilicher Maßnahmen wie „Stop and Frisk“ oder der Beschlagnahmung von Schusswaffen zu bewerten. Die existierenden Forschungsergebnisse erlauben es, die Konsequenzen verschiedener Strategien und Politiken nachzuvollziehen. Doch wenn sich die Rolle von Wissenschaftlern darauf beschränkt, zu beobachten und zu evaluieren, handeln sie oft nur als eine Art Kontrollinstanz, ohne selbst gestaltetend in den operativen Alltag einzugreifen. Problematisch erscheint vor allem, dass viele theoretische Arbeiten in der Kriminologie zwar potenziell interessante Erkenntnisse bereitstellen, jedoch kaum konkrete Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis bieten.
So bleibt vielfach unklar, wie eine Erkenntnis – etwa aus der Analyse illegaler Lieferketten oder der Kriminalitätsentwicklung – unmittelbar Eingang in strategische oder operative Polizeiarbeit findet. Die fehlende Verknüpfung von Forschung und Handlung führt zu einer Distanz zwischen akademischer Welt und den konkreten Herausforderungen, mit denen Strafverfolgungs- und Justizbehörden konfrontiert sind. Der Übergang vom passiven Lernen zum aktiven Handeln kann nur über das gezielte Bauen von Werkzeugen, Methoden und Anwendungen erfolgen, welche die tägliche Arbeit von Polizei, Analysten und Entscheidungsträgern verbessern. Einige wenige Beispiele zeigen, wohin die Reise gehen kann: Algorithmen zur Priorisierung von Kontaktaufnahmen bei sogenannten „Focused Deterrence“-Interventionen, einfache Regeln zum Erkennen von Kriminalitätsspitzen oder die Entwicklung fairer und effektiver Patrouillenbereiche. Besonders letztere haben bereits konkrete Verbreitung gefunden, da sie direkt in den Arbeitsalltag von Sicherheitsbehörden implementiert werden können.
Neben den rein wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist es daher entscheidend, dass Kriminologen ihre Expertise in Softwareentwicklung, Datenauswertung und operativer Planung einsetzen, um praxisnahe digitale Hilfsmittel zu schaffen. Der stärkere Einbezug in die Entwicklung kriminalitätsbekämpfender Technologien könnte dazu führen, dass Forschung nicht mehr nur theoretischen Erkenntnisgewinn liefert, sondern unmittelbar zur realen Verbesserung von Sicherheitssystemen beiträgt. Vergleichbare Forschungsdisziplinen wie Ingenieurswissenschaft oder Biologie zeigen, dass Theorie und praktische Innovation sich gegenseitig befruchten können. Indem Kriminologen direkt in Entwicklungsprozesse eingebunden werden, ließen sich „proof of concept“-Modelle schneller in die Realität übertragen und anwendungsorientiert testen. Ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen in der Technologie für Strafverfolgung unterstreicht den möglichen Mehrwert.
Unternehmen wie Truleo, Polis, CaseX oder Carbyne entwickeln innovative Lösungen für die Analyse von Körperkameravideos, automatisierte Berichterstattung oder die Verteilung von BOLOs (Be On the LookOut Notices). Diese Produkte sind zumeist nicht aus der akademischen Forschung hervorgegangen, sondern von Praktikern oder technisch versierten Unternehmern mit direktem Bezug zur Polizeiarbeit erdacht und umgesetzt. Die Tatsache, dass erfolgreiche Innovationen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung häufig außerhalb akademischer Kreise entstehen, sollte für Wissenschaftler eher Ansporn als Entmutigung sein. Warum nicht selbst Software bauen, Prototypen entwickeln und so eigene innovative Lösungen auf den Markt bringen? Die nötigen technischen Fähigkeiten stehen heute weitaus mehr Menschen offen als früher. Programmiersprachen wie Python sind auch aufgrund ihrer umfassenden Anwendungsgebiete relativ einfach zu erlernen und erlauben die Umsetzung komplexer datenbasierter Anwendungen.
Dadurch können Kriminologinnen und Kriminologen selbst aktiv Werkzeuge schaffen, die operatives Handeln verbessern und gut in polizeiliche Abläufe integriert werden können. Die akademische Kultur fordert derzeit jedoch noch vorrangig Veröffentlichungen und evaluiert Karrierefortschritte anhand von Peer-Reviewed-Publikationen. Diese Prioritätensetzung führt dazu, dass viel Zeit in rein wissenschaftliche Arbeiten fließt, die oft nur geringen Einfluss auf die Praxis haben. Ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Bewertung akademischer Leistungen ist nötig. Die echte Wirkung von Forschung sollte nicht an der Menge an Veröffentlichungen gemessen werden, sondern an den tatsächlichen Verbesserungen, die durch die Arbeit erzielt werden.
Das könnte etwa bedeuten, dass Universitäten, Förderinstitutionen und Fachgesellschaften Innovationen, Technologieentwicklungen und praxisnahe Projekte gezielt fördern und anerkennen. Um dies zu unterstützen, wäre auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Technologieunternehmen sinnvoll. So könnten Fachwissenschaftler ihre Expertise in konkrete Projekte einbringen und gemeinsam an der Entwicklung neuer Lösungen arbeiten. Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, dass es Früchte trägt, wenn Wissenschaftler direkt in operative Entwicklungen eingebunden sind. Die „Focused Deterrence“-Strategie etwa, die David Kennedy entwickelt hat, und Larry Shermans Studien zu Hotspot-Policing sind Musterbeispiele, wie Forschung und Handeln verzahnt werden können.
Heutige Polizeibehörden verfolgen solche Ansätze zwar oft, verfügen jedoch nur selten über die personellen oder institutionellen Ressourcen, um tiefergehende, originär wissenschaftliche Impulse in eigene Betriebsabläufe unmittelbar einzubinden. Hier könnte ein intensiverer Wissenstransfer über gemeinsame Arbeitsprojekte Abhilfe schaffen. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Ausbildung im Bereich Kriminologie. Der Erwerb von Software-Engineering-Kenntnissen findet immer noch wenig Eingang in viele Studiengänge. Das Lernen von Programmiersprachen, Entwicklungsmethoden und agilen Arbeitsweisen sind jedoch essenziell, um moderne Anwendungen zu realisieren.
Hochschulen könnten hierbei gezielter praxisorientierte Angebote schaffen, die den Studierenden nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch handfeste Softwarefähigkeiten vermitteln. Dadurch könnten Nachwuchswissenschaftler gestärkt werden, um eigene Innovationen zu starten oder in bestehenden Firmen mitzuwirken. Gleichzeitig sollte die Entwicklung eines Innovations- und Unternehmergeistes gefördert werden. Nicht jede und jeder Akademiker soll zwangsläufig zum Gründer werden, aber eine offenere Haltung gegenüber praxisnahen Kooperationsprojekten mit der Industrie oder Behörden ist notwendig. Startups bieten hervorragende Chancen, Forschungsergebnisse in produktive Anwendungen umzuwandeln.
Hierbei ist zu bedenken, dass die Herausforderungen des Aufbaus einer eigenen Firma gut bekannt und durchaus anspruchsvoll sind. Doch es gibt preisgünstige und risikoärmere Wege, sich in bestehende Unternehmen involvieren zu lassen, etwa über Teilzeitstellen, Sabbaticals oder Forschungskooperationen. Nicht zuletzt ist die Bedeutung von technologischen Innovationen in der Polizeiarbeit in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Vom einfachen Einsatz von Funkgeräten und Fahrzeugen bis hin zu modernen Bodycams, automatisierter Auswertung von 911-Notrufen oder prädiktiver Analytik können technologische Neuerungen Prozesse grundlegend verbessern und Transparenz schaffen. Gerade bei der aktuell zunehmenden Diskussion um polizeiliche Verantwortlichkeit, mehr Bürgernähe und Effizienz spielt Software eine Schlüsselrolle.
Auch für eine zeitgemäße Kriminalitätsprävention und Strafverfolgung sind digitale Tools inzwischen unerlässlich. Kriminologen, die sich bewusst auf die Entwicklung solcher Instrumente einlassen, können damit eine wichtige Führungsrolle übernehmen. Wenn sie sich jedoch weiterhin hauptsächlich darauf beschränken, bestehende Maßnahmen zu evaluieren, überlassen sie die technologische Transformation anderer Branche oder komplett externen Startups und Konzernen. Letztlich geht es um eine grundlegende Frage: Wollen wir als Wissenschaftler abseits stehen und lediglich beobachten oder Teil der aktiven Gestaltung sein? Wer die Zukunft der Sicherheitsarbeit mitprägen will, muss bereit sein, mehr zu bauen: Prototypen, Werkzeuge und Konzepte, die den Strafvollzug, die Polizei oder die Prävention unmittelbarer verbessern. Nur so lässt sich die Kluft zwischen akademischer Theorie und praktischer Anwendung dauerhaft überwinden.