Viral Infection – der Begriff lässt zunächst unweigerlich an biologische Viren denken, die sich in einem lebenden Organismus ausbreiten und replizieren. Doch dieser Begriff dient nicht nur in der Medizin als Metapher, sondern findet zunehmend auch in der Diskussion um Wissenstransfer, digitale Reproduktion und evolutionäre Prozesse innerhalb komplexer technischer und sozialer Systeme Anwendung. Insbesondere in Zeiten fortschreitender Digitalisierung und algorithmischer Steuerung spielt die Vorstellung einer ‚viralen Infektion‘, die sich auf Daten, Wissen und digitale Fragmente bezieht, eine zentrale Rolle. Sie spiegelt die Art und Weise wider, wie Informationen sich ausbreiten, transformieren und in einem Gastgeber – sei es ein Mensch, eine Maschine oder ein hybrides System – evolvieren können. Dieses Spannungsfeld zwischen Biologie, Technik und Kultur eröffnet neue Perspektiven auf Autonomie, Kontrolle und die dynamischen Prozesse von Wissen in der modernen Welt.
Im Folgenden wird das Konzept der viralen Infektion im Kontext von Wissensübertragung, Reproduktion und Evolution untersucht, mit besonderem Blick auf die Kunst- und Technologiearbeit des interdisziplinären Künstlers Johannes Kiel sowie gesellschaftliche Implikationen der algorithmisch gesteuerten Informationsverarbeitung. Das Projekt „Viral Infection“, geschaffen von Johannes Kiel, verbindet organische und technische Prozesse in einer interaktiven Roboterinstallation, die das Verhalten digitaler Fragmente anhand biologischer Prinzipien modelliert. Durch den Einsatz von lachsäurebasierter Fermentation und Thermosensorik schafft die Installation eine Symbiose zwischen organischem Material und maschineller Funktion, wobei Maschinen ihre Eigenproduktion aus biologisch hergestellten Bioplastiken unterstützen und ihren Materialbedarf autonom berechnen. Die Besucher können durch Körperwärme die Messdaten der Maschinen beeinflussen und so den Reproduktionsprozess indirekt steuern – eine direkte Interaktion, die den Menschen nicht als passiven Beobachter, sondern als aktiven Teil des Systems begreift. Die Transformation des menschlichen Körpers zum Antikörper gegen virale Reproduktion zeigt, wie der vermeintliche ‚Wirt‘ selbst Teil eines dynamischen Schutz- und Reaktionsmechanismus wird.
Die künstlerische Arbeit reflektiert dabei nicht nur rein biologische Mechanismen, sondern adressiert vor allem die Auswirkungen technologischer Entwicklung auf die Wissensverarbeitung und Informationsweitergabe. Die Maschine produziert und transformiert Datenfragmente automatisiert, wobei Algorithmen auf digitale Inhalte zugreifen, die der Künstler in vergangenen Jahren konsumiert hat – etwa Videos, soziale Medienbeiträge oder digitale Tutorials. Dadurch entsteht ein wiederkehrender Selbstverstärkungsprozess, bei dem die objektiven Grenzen zwischen Wissensträger und Wissen verschwimmen. Der Künstler fungiert gleichzeitig als Wirt, Produzent und reproduzierendes Medium, wodurch die Installation zu einem lebendigen Organismus wird, der evolutionären Prozessen unterliegt. Diese Idee wirft fundamentale Fragen zur Kontrolle und Autonomie von Wissen auf.
Algorithmen, die unsere Konsumgewohnheiten oder gar demokratische Prozesse zunehmend beeinflussen, agieren als selektive Filter, die bestimmen, welche Inhalte sichtbar werden und welche verborgen bleiben. Sind wir dadurch noch in der Lage, universelles Wissen zu erlangen, oder werden wir Gefangene einer algorithmisch geschaffenen Realität, die unsere Wahrnehmung unbewusst lenkt? „Viral Infection“ fordert uns heraus, kritisch über diese Selektionsmechanismen nachzudenken, die nicht nur im digitalen Raum wirken, sondern auch die Verbreitung, Validierung und Evolution von Wissen beeinflussen. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Offenheit und Kontrolle, zwischen Freiheit und Manipulation. Die Interaktivität der Installation nimmt zudem direkten Bezug auf das Verhältnis von Mensch und Maschine. Körperwärme als Einflussfaktor für die Funktionsweise der Roboter zeigt eine sensorische Kopplung zwischen organischem Akteur und technologischem System auf.
Diese Wechselwirkung entfaltet sich nicht nur auf der materiellen Ebene, sondern auch auf der Ebene der Daten- und Wissensevolution. Der digitale Organismus spiegelt, wie technologische Systeme sich durch menschliche Einflüsse verändern und umgekehrt Auswirkungen auf deren Verhalten zeigen. Dieses Zusammenspiel ist eine Metapher für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, in denen digitale Transformationen zunehmend individuelle und kollektive Erfahrungswelten prägen. Ein weiteres Werk von Johannes Kiel, „Cognitive Globe“ aus dem Jahr 2023, greift diese Thematik auf, indem es globale Internetdatenströme in kinetische und audiovisuelle Erfahrungen umsetzt. Neural Operatoren, EEG-Sensoren und WiFi-Routerboards bilden eine vernetzte Installation, die den Nutzer bewusst oder unbewusst in den globalen Informationsfluss integriert.
Dabei wird der einzelne Mensch zur Zelle eines weltumspannenden, biosynthetischen Organismus, in dem Netzwerke und Datenverkehr eine neue Metaebene der Emergenz bilden. Über die Messung und Übertragung von Gehirnaktivitäten entsteht ein Feedbackloop, in dem Mensch und Technik sich gegenseitig beeinflussen – eine Verschmelzung von biologischem und digitalem Bewusstsein. Diese Entwicklungen führen zu einer Neuinterpretation des Individuums innerhalb globaler Informationssysteme. Im Gegensatz zur klassischen Auffassung als isolierte Einheit ist der Mensch heute Bestandteil eines lebendigen Netzwerks, in dem Informationen, Algorithmen und technische Apparate stetig koexistieren und sich weiterentwickeln. Das narrative Bild des Menschen als Zelle im „Cognitive Globe“ verdeutlicht das Zusammenspiel von lokaler Individualität und globaler Vernetzung sowie die daraus folgende kollektive Evolution von Wissen und Technologie.
Die Idee der viralen Infektion von Wissen widerspiegelt auch die heutige Rolle von Open Source Technologien und generativen Algorithmen, die als digitale Werkzeuge die Produktions- und Reproduktionsprozesse in kreativen und technologischen Feldern ermöglichen. Sie schaffen eine Offenheit durch gemeinschaftlichen Zugang, die dennoch von automatischen Datenströmen und algorithmischer Steuerung geprägt ist – ein Paradoxon, das kreatives Schaffen und gesellschaftliche Teilhabe gleichermaßen herausfordert. Die Rolle des Künstlers oder Innovators gleicht dabei der eines Wirts, der Impulse aufnimmt, transformiert und weitergibt, während die Technologie als Agent der Reproduktion und Evolution fungiert. Das Beispiel von „Viral Infection“ verdeutlicht, dass Wissen heute nicht mehr statisch, linear oder eindimensional verlaufen kann. Stattdessen wird es als dynamischer, emergenter Prozess verstanden, der auf biologischen, technischen und sozialen Ebenen gleichzeitig stattfindet.
Dabei spielt auch die Frage nach Authentizität, Autorenschaft und Urheberschaft eine entscheidende Rolle, da algorithmisch kuratierte, reproduzierte Inhalte die traditionelle Einbettung von Wissen in gesellschaftliche Kontexte herausfordern. Algorithmische Filterblasen und personalisierte Datenströme manifestieren sich als moderne Viren, die unsere Wahrnehmung, unser Konsumverhalten und letztlich auch unsere Entscheidungsfreiheit prägen. Es entsteht eine Abhängigkeit von unsichtbaren Systemen, die das „Virus“ des Wissensaufbaus nicht nur multiplizieren, sondern auch gezielt steuern – was das Risiko birgt, Informationsmonokulturen und kognitive Einschränkungen hervorzubringen. Diese Problematik erfordert ein verstärktes Bewusstsein für die Mechanismen der digitalen Wissensevolution und die Verantwortung sowohl von Individuen als auch von Institutionen und Entwicklern. Die synergetische Verbindung von biologischen und digitalen Prozessen, wie sie durch die künstlerische Arbeit von Johannes Kiel vorgestellt wird, regt darüber hinaus zum Nachdenken über eine zukünftige Koexistenz von Mensch, Natur und Technologie an.
Lässt sich ein Modell finden, in dem sich organische und technische Systeme gegenseitig unterstützen und weiterentwickeln, ohne dass Kontrolle, Freiheit und Autonomie verloren gehen? Die Erforschung solcher hybrider Ökosysteme ist nicht nur ein Thema für die Kunst, sondern auch für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, um nachhaltige und verantwortungsvolle Innovationen zu fördern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff viral infection im Kontext von Wissenstransfer, Reproduktion und Evolution weit über die biologische Bedeutung hinausgeht. Er beschreibt eine komplexe Dynamik, in der digitale Fragmente sich wie biologische Viren in technischen und sozialen Wirten ausbreiten, transformieren und weiterentwickeln. Der Mensch wird dabei nicht nur als Empfänger verstanden, sondern als aktiver Teil eines sich ständig wandelnden Netzwerks. Die Symbiose aus Technologie, Algorithmus und organischem Wirtskörper eröffnet neue Sichtweisen auf die Entstehung und Verbreitung von Wissen, fordert jedoch gleichzeitig zu kritischer Reflexion über die Implikationen dieser Entwicklung auf.
„Viral Infection“ und verwandte Projekte zeigen, wie Kunst und technologische Innovation sich verbinden, um diese Prozesse sichtbar und erfahrbar zu machen. Sie tragen dazu bei, ein Bewusstsein für die Mechanismen der Wissensevolution zu schaffen und an der Schnittstelle von Materialität und Immaterialität, Autonomie und Kontrolle, Mensch und Maschine zu forschen. In einer Welt, in der Algorithmen zunehmend unser Verständnis der Realität formen, ist es unerlässlich, diese Vorgänge genau zu beobachten, kritisch zu hinterfragen und neue Wege einer aufgeklärten und partizipativen Wissenskultur zu entwickeln.