Die faszinierende Welt der antiken Papyrusrollen aus Herculaneum erhält einen bedeutenden Fortschritt durch die erstmalige erfolgreiche Entzifferung des Titels einer noch eingerollten Schriftrolle. In einer historischen Leistung gelang es Forschern, mithilfe modernster nicht-invasiver Techniken den Titel eines Werkes aus den verkohlten Faltungen eines Papyri sichtbar zu machen. Dieser spektakuläre Durchbruch wurde mit einem Preisgeld von 60.000 US-Dollar gewürdigt und sorgt für Aufsehen in der Fachwelt der Alten Geschichte, Philologie und digitalen Archäologie. Die Schriftrolle PHerc.
172, die an der Bodleian Libraries der Universität Oxford aufbewahrt wird, offenbarte den Titel „Philodemus, Über die Laster, Buch 1(?)“ zum ersten Mal überhaupt, ohne dass das fragile Dokument entrollt werden musste. Diese Entdeckung stellt den erstmaligen Nachweis eines Titels auf einem nach wie vor eingerollten Herculaneum-Schriftstück dar und wird als Meilenstein im Umgang mit den von dem Vesuv im Jahr 79 n. Chr. zerstörten Kulturgütern außerordentlich gefeiert. Das Forschungsteam des Vesuvius Challenge, einer internationalen Forscherinitiative, arbeitete mit innovativen Bildgebungsverfahren und Algorithmen zur Tinten- und Textsegmentierung, um die verborgene Schrift im Inneren der verbrannten Papyrusrollen sichtbar zu machen.
Besonderer Dank gilt den Teams von Sean Johnson sowie Marcel Roth und Micha Nowak, die unabhängig voneinander denselben Titel identifizierten. Roth und Nowak übertrafen zudem frühere Techniken der Tinten-Detektion und wurden für ihre herausragenden Leistungen mit dem ersten „First Title Prize“ in Höhe von 60.000 US-Dollar ausgezeichnet. Die Bedeutung des Titels „Über die Laster“ geht über die reine Textidentifikation hinaus. Es handelt sich dabei um ein Werk des Philosophen Philodemus, der zu den wichtigsten Vertretern des Epikureismus zählt.
Dieses Werk umfasst ethische Überlegungen zu moralischen Fehlverhalten und deren Gegenstücken, den Tugenden. Die Korrespondenz mit historischen Persönlichkeiten und Dichtern wie Quintilius Varus, Varius Rufus, Plotius Tucca und sogar Vergil in anderen Büchern dieses Werks unterstreicht die kulturelle und philosophische Bedeutung der Schriftrolle. Ein bemerkenswertes Detail bei der Entzifferung ist, dass der Titel auf der gleichen Zeile wie die Buchnummer erscheint, was bei den bisher bekannten Herculaneum-Schriftstücken ungewöhnlich ist. Gewöhnlich sind Autorenname, Titel und Buchnummer auf jeweils eigenen, zentrierten Zeilen angeordnet. Diese Entdeckung könnte auf Besonderheiten entweder im Entstehungsprozess des Manuskripts oder in dessen Bearbeitung hinweisen.
Ob es sich um eine Entwurfsfassung handelt oder um eine andersartige Praxis, ist momentan Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Außerdem stehen die Ergebnisse in Widerspruch zu bisheriger Annahmen, dass das erste Buch von „Über die Laster“ mit dem Werk „Über Schmeichelei“ identisch sei. Das PHerc. 172 scheint hier andere Texte zu enthalten, wodurch das Verständnis der Überlieferungsgeschichte und des Werkes möglicherweise wesentlich erweitert wird. Solche neuen Einsichten tragen maßgeblich zur Rekonstruktion der antiken Philosophie bei und eröffnen neue Möglichkeiten der Interpretation der Texte.
Die Anwendung fortschrittlicher Autosegmentierungsverfahren zur Tintenidentifikation hat nicht nur die Textentschlüsselung ermöglicht, sondern zeigt auch das Potenzial, weitere bisher unlesbare Passagen zu entziffern. Trotz der noch bestehenden Herausforderungen wie Fehlzuordnungen von Papierlagen oder Teilstücken sind die Fortschritte ermutigend und unterstreichen die Effektivität der Kombination aus moderner Technologie und klassischer Philologie. Diese Errungenschaft ist eingebettet in ein breiteres Projekt, das vom Vesuvius Challenge initiiert wurde, das Wettbewerbe, Preise und Forschungsmöglichkeiten anbietet, um Teams weltweit zur Entzifferung der antiken Schriftrollen zu motivieren. Neben dem „First Title Prize“ von 60.000 US-Dollar für Titel auf verschiedenen unerschlossenen Rollen wird auch ein Hauptpreis von 200.
000 US-Dollar für die vollständige Entschlüsselung einer gesamten Schriftrolle ausgelobt. Dadurch soll ein internationales Interesse geweckt und die Ressourcen für die Erforschung dieser bislang größtenteils unzugänglichen Quellen erhöht werden. Unterstützt wird das Vorhaben von namhaften Institutionen wie der Bodleian Libraries in Oxford, der Biblioteca Nazionale di Napoli, der Universität von Neapel Federico II und Forschungslaboren der University of Kentucky. Diese Kooperationen ermöglichen die Verknüpfung archaischer physischer Artefakte mit moderner Bildverarbeitungstechnologie und KI-gestützter Texterkennung. Durch diese digitale Revolution erschließen sich uns neue Horizonte, die es ermöglichen, das kulturelle und philosophische Erbe der Antike in bisher ungekanntem Ausmaß zu erforschen und zu bewahren.
Der Fund des Titels von PHerc. 172 ist nur der Anfang, ein Symbol dafür, wie Technologie und Leidenschaft für alte Texte eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen. Die Entdeckung hat auch einen breiteren Einfluss auf die Wissenschaftsgemeinschaft, indem sie zeigt, dass eine ästhetische und wissenschaftliche Herausforderung wie die Erforschung von verkohlten Schriftrollen nicht bloß theoretisch behandelt wird, sondern praktisch lösbare technologische Innovationen mit wirkungsvoller Anwendung vorliegen. Gleichzeitig inspiriert die Aussicht auf lukrative Preise weitere Forscher, sich den komplexen Herausforderungen zu stellen und das Wissen um die antike Welt zu bereichern. Die nächsten Schritte bestehen darin, die neu gewonnenen Daten weiter zu verfeinern und die teilweise entzifferten Texte vollständig zu rekonstruieren.