Seit Jahrhunderten beschäftigen sich Astronomen mit der Möglichkeit, dass sich weitere Himmelskörper in unserem Sonnensystem befinden könnten – auch in Bereichen, die nur schwer beobachtbar sind. Eine solche Vorstellung betrifft den sogenannten Planeten Vulcan, von dem angenommen wurde, dass er eine Umlaufbahn zwischen Merkur und der Sonne innehätte. Diese Idee steht völlig losgelöst vom fiktiven Planeten Vulcan aus dem Star-Trek-Universum und hat eine faszinierende und zugleich tragische Geschichte der Wissenschaft. Die Hypothese über einen inneren Planeten zwischen Merkur und der Sonne entstand im 19. Jahrhundert.
Wissenschaftler stellten fest, dass die Bahn des Merkurs nicht exakt den Vorhersagen gemäß Isaac Newtons Gravitationsgesetzen folgte. Insbesondere zeigte die Bahnachse des Merkurs eine Eigenheit, die sogenannte Periheldrehung, die sich nicht vollständig durch bekannte Einflüsse erklären ließ. Die Frage lag nahe, ob die Schwerkraft eines unbekannten Himmelskörpers, der näher an der Sonne kreiste als Merkur, diese Abweichungen verursachen könnte. Der französische Mathematiker und Astronom Urbain Le Verrier, der zuvor durch die erfolgreiche Berechnung der Existenz des Neptun bekannt geworden war, nahm sich dieses Problems an. Er wies darauf hin, dass die Umlaufbahn des Merkurs eine ungewöhnliche Anomalie aufwies, die seiner Meinung nach nur durch die Gravitation eines noch unbekannten Planeten erklärt werden konnte.
1859 berichtete der Amateurastronom Edmond Modeste Lescarbault, dass er am 26. März desselben Jahres ein kleines Objekt vor der Sonnenscheibe beobachtet habe, welches als Transit eines solchen Planeten interpretiert wurde. Le Verrier nahm dies begeistert auf und nannte diesen hypothetischen Planeten Vulcan – nach dem römischen Gott des Feuers. Doch trotz mehrerer behaupteter Sichtungen in den Jahrzehnten danach blieb der Nachweis für Vulcan aus. Viele Astronomen unternahmen systematische Beobachtungen während Finsternissen oder Transits, um den Planeten zu entdecken.
Es gab immer wieder Berichte von Beobachtern, die vermeintliche kleine dunkle Punkte vor der Sonne sahen. Besonders während der totalen Sonnenfinsternis von 1878 berichteten bedeutende Astronomen von Beobachtungen von neuartigen Objekten nahe der Sonne. Doch diese konnten letztlich nicht bestätigt werden und führten zu großer wissenschaftlicher Skepsis. Das Problem lag auch darin, dass die Sonne bei Beobachtungen von inneren Planeten extreme Leuchtdichte und Blendung verursachte, wodurch eine eindeutige Sichtung sehr schwierig war. Zudem könnten viele der vermuteten Beobachtungen mit Sonnenflecken oder bekannten Sternen verwechselt worden sein.
Die widersprüchlichen Daten und fehlenden wiederholbaren Nachweise führten zu einer kontroversen Debatte in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, wobei Befürworter und Skeptiker der Vulcan-Hypothese sich gegenüberstanden. Mit der Weiterentwicklung der Physik kam schließlich eine bahnbrechende Erklärung, die das Problem der Merkurschen Bahnbewegung auf eine völlig andere Ebene hob. Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie aus dem Jahr 1915 lieferte die Erklärung für die anomalistische Periheldrehung des Merkurs. Nach Einsteins Theorie krümmt die Masse der Sonne die Raumzeit in ihrer Umgebung so stark, dass die Bewegungen der Planeten daraus resultieren. Dadurch erschien die Bahn des Merkurs aus der Perspektive Newtons verzerrt, was zuvor fälschlicherweise als das Ergebnis eines weiteren Planeten interpretiert wurde.
Einsteins Modell sagte exakt jene 43 Bogensekunden voraus, um die sich der Perihel von Merkur pro Jahrhundert über die Newtonsche Berechnung hinaus verschob – ein Befund, der anhand sorgfältiger Beobachtungen bestätigt wurde. Diese Revolution in der Naturwissenschaft beseitigte das Notwendigkeitsargument für die Existenz von Vulcan. Astronomen akzeptierten daraufhin weitgehend, dass ein solcher innerer Planet nicht existiert. Obgleich Vulcan als Planet verschwand, blieb der Name im astronomischen Kontext erhalten. Die Internationale Astronomische Union reservierte den Begriff „Vulcanoiden“ für mögliche Asteroiden, die sich in einer Bahn zwischen Sonnenrand und Merkur befinden könnten.
Bis heute wurden solche Vulcanoiden zwar nicht zweifelsfrei entdeckt, doch die Suche mit erd- und weltraumgestützten Instrumenten sowie mit modernen Sonden wie der NASA Parker Solar Probe, die besonders nahe an die Sonne herankommt, wird fortwährend vorangetrieben. Der Fall Vulcan steht exemplarisch für die Arbeitsweise der Wissenschaft: Hypothesen werden aufgestellt, beobachtet, geprüft und im Lichte neuer Erkenntnisse angepasst oder verworfen. Er zeigt, wie falsche Annahmen selbst von brillanten Denkern gestützt und bewundert werden können – wie im Falle von Le Verrier, dessen Vorhersage von Neptun spektakulär war. Gleichzeitig illustriert die Geschichte, wie bahnbrechende Erkenntnisse – hier Einsteins Relativitätstheorie – gesamte Paradigmen verschieben und überholte Modelle ablösen können. Die Faszination um Vulcan wird auch heute wieder lebendig, wenn Astronomen nach Objekten forschen, die schwer zu entdecken sind, wie etwa die hypothetischen Planeten jenseits der Neptunbahn oder Himmelskörper in sonnennahen Umlaufbahnen.
Die Geschichte zeigt, dass unser Verständnis des Sonnensystems auch nach Jahrhunderten immer noch im Fluss ist. Zudem verdeutlicht das Beispiel von Vulcan die Herausforderungen astronomischer Beobachtungen im hellen Sonnenumfeld. Transits, Finsternisse und moderne Weltraumteleskope sind Schlüsselmethoden, um die inneren Regionen des Sonnensystems zu erkunden und dabei mögliche Objekte wie Atira-Asteroiden oder gar noch unbekannte Planeten zu finden. Abschließend ist Planet Vulcan eine spannende historische Episode, bei der Wissenschaftler mit den besten Mitteln ihrer Zeit versuchten, das Universum zu erklären. Von den ersten spekulativen Beobachtungen ging die Reise über dramatische, oft widersprüchliche Entdeckungsmeldungen bis hin zur endgültigen Widerlegung durch neue physikalische Erkenntnisse.
Es war der Moment, in dem die Welt erlebte, wie Einsteins Theorien die Newtonsche Weltsicht transformierten und wie eine Marschrichtung für die moderne Wissenschaft gelegt wurde. Vulcan ist heute ein Symbol für scientific inquiry, seinen Fortschritt und die selbstkorrigierende Natur der Forschung. Und obwohl der Planet nicht existiert, hat seine Geschichte der Astronomie wertvolle Lektionen beschert und inspiriert weiterhin Forscher, das Unbekannte zu erforschen – nicht nur im äußeren Sonnensystem, sondern auch direkt in der Nähe unserer Sonne.