Träume sind seit jeher ein faszinierendes und mysteriöses Phänomen, das Wissenschaftler, Psychologen und Laien gleichermaßen interessiert. Sie sind ein Spiegel unserer Psyche, unserer Erlebnisse und unserer Ängste, doch gleichzeitig bleiben viele Aspekte des Träumens rätselhaft und wenig erforscht. Die traditionelle Traumforschung stand oft vor der Herausforderung, handliche und valide Methoden zur Analyse von Trauminhalten bereitzustellen, die zugleich umfassend und skalierbar sind. In den letzten Jahren hat die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz, insbesondere im Bereich des Natural Language Processing (NLP), einen bedeutenden Fortschritt ermöglicht. Die Analyse freier, unstrukturierter Traumberichte aus Social Media, insbesondere Reddit, eröffnet neue Möglichkeiten zur Entdeckung von Traumthemen und deren Dynamik auf Bevölkerungsebene.
Social-Media-Plattformen wie Reddit spiegeln oft sehr authentisch und unzensiert persönliche Erfahrungen wider. Die Subreddit-Community r/Dreams etwa ist eine lebendige Austauschplattform, auf der Nutzer ihre Träume teilen, diskutieren und deuten. Über 44.000 einzigartige Traumberichte von mehr als 34.000 Usern bieten eine enorme Datenquelle zur Untersuchung der Vielfalt und Häufigkeit von Trauminhalten.
Anders als in klassischen Labor- oder Umfrage-Studien, die meist auf kleine Stichproben oder retrospektive Erhebungen setzen, eröffnen diese Daten einen besonders ökologisch validen Einblick in natürlich erinnerte Träume. Um die riesige Menge an Textdaten nutzbar zu machen, wird auf das moderne NLP-Verfahren BERTopic zurückgegriffen, das es erlaubt, ohne vorgegebene Kategorien eine Vielzahl von Themen ( Topics ) in den Texten automatisch zu extrahieren. Insgesamt konnten auf diese Weise 217 sinnvolle Traumthemen identifiziert und zu 22 umfassenden Themenbereichen zusammengefasst werden. Dabei treten sowohl bekannte Kategorien aus der Traumforschung wie Personen, Beziehungen, Emotionen, aber auch neue, detaillierte Themen zu etwa Wetter, Technologischen Objekten oder Körperteilen hervor. Der Vergleich mit der etablierten Hall und Van de Castle Skala, die seit Jahrzehnten als Standard zur Traum-Inhaltsanalyse gilt, zeigte eine hohe Übereinstimmung der Grundthemen.
Allerdings enthüllt die KI-basierte Methode eine deutlich feinere und umfassendere Darstellung: Anstatt auf vordefinierten Kategorien zu beharren, wird das volle Spektrum der Träume – inklusive bizarrer oder seltener Inhalte – abgebildet. Dies ermöglicht einen viel reichhaltigeren Einblick unter anderem in die Beziehungen zwischen Themen und deren Gewichtung in unterschiedlichen Traumtypen. Die Erforschung von Albträumen, wiederkehrenden Träumen, luziden und lebhaften Träumen zeigte jeweils spezifische Muster auf. So sind Albträume etwa geprägt von schattenhaften und bedrohlichen Motiven wie Gewalt und sexuellen Übergriffen, während luzide Träume durch Themen wie Kontrolle und Reflexion von Mentalprozessen charakterisiert sind. Eine weitere spannende Anwendung dieses Ansatzes ist die Untersuchung der Veränderung von Trauminhalten über die Zeit.
So fanden sich markante Verschiebungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Im Verlauf der Pandemie reduzierten sich Träume über soziale Interaktionen, Außenräume und Bewegung, während innenliegende Orte, Themen zum menschlichen Körper und Gewalt zunahmen. Diese Entwicklung spiegelt vermutlich die realen Einschränkungen des sozialen Lebens und die Ängste wider, die mit der Pandemie verbunden sind. Ebenso beeinflusste der Krieg in der Ukraine das Traumgeschehen der User, indem Themen wie Soldaten und Nuklearkrieg in Träumen häufiger auftauchten. Mit diesen Erkenntnissen leistet die Kombination aus Social-Media-Daten und NLP nicht nur einen methodischen Fortschritt, sondern beleuchtet auch, wie kollektive psychische Zustände in Träumen Ausdruck finden.
Gleichzeitig stellt diese Forschung aber auch Herausforderungen, etwa die Repräsentativität: Reddit-Nutzer sind tendenziell jünger, männlicher und urbaner als die Allgemeinbevölkerung. Dennoch bietet die Methode einen bisher nicht dagewesenen Zugang zu großen, spontanen Traumberichten, deren Auswertung bisher kaum möglich war. Die Automation und Skalierbarkeit durch KI erlaubt es darüber hinaus, bereits vorhandene subjektive Bias in manuellen Kodierungen weitgehend zu minimieren und neue, bisher verborgene Muster aufzudecken. Das Verfahren filtert auch gut nicht-traumbezogene Inhalte heraus und kann mehrere Themen pro Traumbericht zuordnen, was die vielschichtige Natur von Träumen widerspiegelt. Ein Vorteil des methodischen Ansatzes besteht darin, dass sie auch in klinischen Kontexten nützlich sein kann.
Die Identifikation von spezifischen Albtraum-Motiven oder wiederkehrenden Angstthemen kann etwa Patient:innen und Therapeut:innen wichtige Hinweise liefern. Die große Datenbasis eröffnet zudem Studien mit hoher statistischer Aussagekraft, die neue Hypothesen zur Funktion und Bedeutung von Träumen ermöglichen. Weiterführende Anwendungen könnten in der Echtzeitanalyse von Traumberichten liegen, um psychische Belastungen oder gesellschaftliche Trends zu erkennen. Auf Forschungsebene erlaubt das Entdecken der Beziehungen zwischen Themen den besseren Zugang zum Verständnis der Traumstruktur und deren Einfluss auf unser alltägliches psychisches Erleben. Zudem zeigt sich, dass Träume nicht isoliert von der realen Welt betrachtet werden können, sondern in einem ständigen Wechselspiel mit aktuellen Ereignissen, Gefühlen und Erlebnissen stehen.
Die entwickelten Traumtaxonomien können perspektivisch für weitere Forschungsansätze genutzt werden, sowohl im Bereich der klinischen Psychologie als auch der kognitiven Neurowissenschaften. Insbesondere die Verbindung von gesammelten Traumberichten mit biophysiologischen Daten könnte unser Wissen über Schlafphasen und deren Funktion vertiefen. Außerdem eröffnet die Methode Potentiale im Bereich des personalisierten Monitorings oder der Unterstützung bei Traumdeutung und -prävention. Zusammenfassend zeigt der innovative Einsatz von Natural Language Processing auf Basis von Social-Media-Traumberichten eine spannende neue Ära in der Traumforschung. Die Kombination aus großer Datenmenge und leistungsstarker, unüberwachter KI-Analyse ermöglicht es, die tiefen Strukturen von Träumen auf populationsebene zu erkennen und Veränderungen über Zeit und Ereignisse hinweg nachzuvollziehen.
Dies erschließt nicht nur unkannte thematische Facetten, sondern stärkt auch den Zusammenhang zwischen Traum und Wachbewusstsein. Zukünftige Arbeiten könnten das Modell weiter verfeinern, kulturelle Unterschiede stärker berücksichtigen und zusätzliche Datenquellen hinzuziehen. Zudem bleibt die ethische Dimension, insbesondere im Umgang mit persönlichen Traumberichten aus dem Internet, von Bedeutung. Insgesamt jedoch stellt der Ansatz einen bedeutenden Schritt zu mehr Verständnis des Träumens als universelles menschliches Erlebnis dar, das zugleich individuell, sozial und historisch geprägt ist und sich dank moderner Technologien erstmals großflächig erfassen und interpretieren lässt.