Die Geschichte ist voller düsterer Geheimnisse, und jede Epoche hat ihre eigenen faszinierenden Mysterien. Eines der aufsehenerregendsten historischen Rätsel aus dem Mittelalter wurde kürzlich durch eine innovative digitale Forschung gelöst, die moderne Technologie mit tiefgehender historischer Analyse verbindet. Das Cambridge Medieval Murder Maps Projekt hat durch detailreiche Karten und intensive Studien von Koroner-Protokollen des 14. Jahrhunderts einen brutalen Mordfall aus dem Jahr 1337 im Herzen Londons entschlüsselt. Die Ergebnisse werfen nicht nur Licht auf einen geplanten Mord von adeliger Hand, sondern offenbaren auch tiefe Machtkonflikte zwischen der englischen Aristokratie und der Kirche jener Zeit.
Die Wurzeln des Projekts liegen in der Arbeit des Kriminologen Manuel Eisner von der Universität Cambridge. Schon 2019 begann Eisner mit der Aufarbeitung der Mordfälle aus den mittelalterlichen Koroner-Rollen der Stadt London. Diese historischen Dokumente, die in lateinischer Sprache verfasst sind, sind eine wertvolle Quelle für Informationen über plötzliche und verdächtige Todesfälle jener Zeit. Die Koroner-Rollen enthielten Angaben dazu, wo die Leichen gefunden wurden, die Zeugenberichte und vor allem die Umstände der Morde und die eingesetzten Waffen. Mithilfe dieser Daten hat das Forschungsteam die Orte der Verbrechen georeferenziert und interaktive Karten erstellt, die die Verteilung der Tötungsdelikte im mittelalterlichen London visualisieren.
Ein besonders faszinierender Fall, der im Rahmen dieser Forschung gelüftet wurde, ist der Mord an John Forde, einem Priester, der am 3. Mai 1337 brutal in den Straßen von Cheapside ermordet wurde. Sekunden vor der Tat wurde Forde von einem anderen Geistlichen, Hascup Neville, angesprochen, der als Teil einer ausgeklügelten Intrige diente. Die nachfolgenden Angreifer waren eine Gruppe, die mit Ela Fitzpayne, einer hochrangigen Adligen jener Ära, verbunden war. Das Ermittlungsverfahren dokumentierte sechs Beteiligte, darunter Ela Fitzpaynes Bruder und ehemalige Diener, die Forde mit einem langen Dolch und weiteren Messern attackierten und ihn tödlich am Hals und am Bauch verletzten.
Das Motiv für diesen Mord scheint eindeutig Rache zu sein. Eisner beschreibt die Tat als kaltblütig geplant, wobei nahe Vertraute und Familienmitglieder involviert waren. Trotz eines eindeutigen Drahtziehers und der Identifikation der Täter wurde der Fall nie konsequent verfolgt. Die sogenannten „class-based justice“-Strukturen jener Zeit sorgten dafür, dass eine Hausherrin von hohem Adel nicht für ihre Rollen in Verbrechen belangt wurde. So blieb die Mehrheit der Beteiligten frei, während einer, ein ehemaliger Diener, erst fünf Jahre später inhaftiert wurde.
Die Hintergründe dieser Tat reichen tiefer als ein einfacher Mord aus Eifersucht oder persönlichen Konflikten. Historische Verzeichnisse aus dem Zeitraum offenbaren eine langanhaltende Fehde zwischen den Fitzpaynes und John Forde. Unter anderem werden Ela Fitzpayne und ihr damaliger Ehemann, Sir Robert Fitzpayne, in einem Dokument des Jahres 1321 beschuldigt, eine Benediktiner-Priorei überfallen und Bestandteile wie Tiere und Baumaterialien gestohlen zu haben. Diese kriminellen Aktivitäten verstrickten keine gewöhnlichen Bürger, sondern Adelige und ihre Gefolgsleute. Das Spannungsfeld zwischen kirchlicher Autorität und Adel zeigt sich besonders in den erhaltenen Briefen des Erzbischofs von Canterbury.
Diese Dokumente, erst kürzlich im Rahmen des Projekts vollständig übersetzt veröffentlicht, werfen ein Licht auf die zahlreichen Sünden, die der Adligen Ela Fitzpayne vorgeworfen wurden. Darunter fallen Ehebruch – selbst mit Geistlichen – sowie Ausschreitungen. Der erzbischöfliche Appell an Ela umfasste nicht nur moralische Missbilligungen, sondern auch eine Reihe von Strafen, die von Geldzahlungen an die Armen bis zu öffentlichen Demütigungen reichten. So sollte sie jährlich eine Art „Bußgang“ absolvieren, bei dem sie einen schweren Wachskerzenbarren zur Kathedrale von Salisbury tragen musste. Ela Fitzpayne lehnte diese Strafen jedoch vehement ab und zeigte offen ihren Trotz gegenüber der kirchlichen Instanz, was schließlich zu ihrer Exkommunikation führte.
Die Empörung und Schmach könnten ein auslösendes Element für ihren Rachefeldzug gegen John Forde gewesen sein. Möglicherweise hatte dieser auch Informationen preisgegeben, die Ela in Schwierigkeiten gebracht hatten, was das Motiv für den Mord auf eine neue Ebene hob: Es war ein Machtkampf zwischen weltlicher und geistlicher Klasse, in dessen Zentrum ein menschliches Drama voller Intrigen, Verrat und Gewalt stand. Die räumliche Analyse der Mordorte unterstreicht die Bedeutung öffentlicher Plätze in mittelalterlichen Städten als Brennpunkte sozialer Spannungen und Gewalt. Das Cambridge-Projekt zeigte, dass viele der Tötungsdelikte an stark frequentierten Orten wie Straßen, Marktplätzen oder Plätzen mit hoher Symbolkraft stattfanden. Besonders im Gebiet von Cheapside, einem zentralen Handelsviertel nahe berühmter Kirchenbauten wie St.
Paul’s Cathedral, gab es auffällige Häufungen von Gewaltdelikten. Die Waffenauswahl der Täter war typisch für die damalige Zeit. Auf den Karten dominieren Messer und Schwerter. Knapp sieben von zehn mittelalterlichen Morden in London wurden mit solchen Klingenwaffen ausgeführt. Die tödlichen Auseinandersetzungen ereigneten sich meist zu späterer Stunde oder an Wochenenden, was auf ein gesellschaftliches Muster hindeutet, das auch heute noch Parallelen findet.
Beeindruckend ist auch die Ausweitung des Projekts auf andere mittelalterliche Städte wie York und Oxford. Die Ergebnisse sind konsistent: Homicide konzentrierte sich ebenfalls auf öffentliche Orte, und es zeigen sich Unterschiede in der sozialen Dynamik. Oxford etwa wies eine besonders hohe Mordrate und eine starke Gruppengewalt auf, was auf erhebliche soziale Unordnung hinweist. London hingegen zeigte klar erkennbare Cluster, die den jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Funktionen der Stadtteile zugeordnet werden können. Solche Erkenntnisse eröffnen neue Perspektiven auf das Verständnis städtischer Gewalt im Mittelalter und deren Einbettung in gesellschaftliche Strukturen.
Die Kombination aus originalen historischen Quellen und moderner Geoinformationstechnologie erlaubt es Forschern, soziale Dynamiken vergangener Zeiten zu rekonstruieren. Durch die Visualisierung von Mordorten können Muster und Hotspots identifiziert werden, die sonst im Dunkel der Geschichte verborgen geblieben wären. Gleichzeitig ermöglichen pulsierende Geschichten wie die von Ela Fitzpayne und John Forde einen weitreichenden Einblick in das Leben und die Machtspiele im mittelalterlichen England. Diese Entdeckungen gewinnen nicht nur für Historiker und Kriminalforscher an Bedeutung, sondern sind auch für ein breiteres Publikum spannend. Die Idee, dass es schon vor Jahrhunderten ausgeklügelte Rachemorde, verdeckte Bündnisse zwischen Adeligen und Übergriffe auf die Kirche gab, verleiht dem Mittelalter eine greifbare, lebendige Dimension.