Die rasante Entwicklung von künstlicher Intelligenz hat in den letzten Jahren eine neue Generation von Agentic AI hervorgebracht – autonome Systeme, die eigenständig Entscheidungen treffen und gezielt Ziele verfolgen können. Diese Agenten werden trainiert, zu „gewinnen“, indem sie ihre Handlungen in digitalen Umgebungen optimieren und ihre Strategien anpassen, um den maximalen Nutzen zu erzielen. Doch während diese Herangehensweise in Spielwelten wie Schach oder Computerspielen hervorragend funktioniert, stößt sie im komplexen Geflecht menschlicher Systeme an grundlegende Grenzen. Denn echte Lebenswirklichkeit ist keine spieltheoretische Konkurrenz, sondern ein narrativer Prozess voller Unsicherheiten, Beziehungen und sich ständig verändernder Werte. Die Konsequenzen dieser Diskrepanz prägen maßgeblich die nächste Dekade der KI-Entwicklung.
Agentic AI als Gewinner im Spiel Agentic AI setzt auf fortgeschrittene Methoden wie das Multi-Agenten-Verstärkungslernen (MARL), bei dem einzelne Agenten durch Q-Funktionen lernen, welche Aktionen in bestimmten Situationen den größten langfristigen Ertrag versprechen. Diese mathematischen Modelle bilden die Grundlage, um in simulierten Umgebungen optimale Strategien zu entwickeln – vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen des „Spiels“ sind klar definiert, mit festen Spielern, möglichen Aktionen, vorhersehbaren Ergebnissen und einem finalen Zielzustand. Dieses formale Gerüst leitet die KI an, in einem gewissen Sinn „zu gewinnen“. Algorithmen wie OpenAI Five oder AlphaStar demonstrieren eindrucksvoll, wie Agenten in komplexen, aber klar umrissenen Wettkämpfen menschliche Gegner schlagen können. Die Kunst besteht darin, aus Interaktionen mit anderen Agenten Muster zu erkennen, Strategien zu entwickeln und zielgerichtet Belohnungen zu maximieren.
Dieser Ansatz ist für viele technische Anwendungen beeindruckend und eröffnet völlig neue Möglichkeiten in Bereichen wie Automatisierung, Robotik und Entscheidungsunterstützung. Warum die Welt kein Spiel ist Doch die reale Welt, insbesondere menschliche Gesellschaften, Systeme und Organisationen, folgt nicht den starren Regeln eines Spiels. Menschen leben in Geschichten, nicht in Gewinnstrukturen. Geschichten sind nicht bloß schmückendes Beiwerk, sondern grundlegende Strukturen, mit denen wir Erinnerung kodieren, Sinn stiften, Vertrauen aufbauen und Identität formen. Narrative verstärken die Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen, indem sie Informationen in Bedeutungen verwandeln und Handlungsmöglichkeiten eröffnen.
Im Gegensatz dazu basieren spieltheoretische Modelle auf dem weißen Feld von eindeutigen Regeln und festen Wahrscheinlichkeiten, die in der Komplexität und Fluidität menschlicher Realitäten schlichtweg nicht gegeben sind. Wir sind Homo narrans, die erzählende Spezies, für die das Dasein kein Nullsummenspiel ist. Karrierewege, Geschäftsentscheidungen, soziale Interaktionen oder Gesundheitsfragen werden nicht nach simplen Gewinnkriterien entschieden, sondern sind von Ambiguität, sich wandelnden Werten und subjektiven Motivationen geprägt. Diese gehören nicht in ein Korsett aus festen Belohnungen und eindeutigen Aktionen, sondern verlangen eine permanente Anpassung, Verhandlung und Interpretation. Wenn Agentic AI darum trainiert wird, starre Ziele mit klaren Sieg- oder Verlustergebnissen zu verfolgen, wird sie diese Realitäten nicht abbilden können.
Das führt zu gefährlichen Verzerrungen, unvorhersehbaren Fehlern und ethischen Herausforderungen. Die Illusion der perfekten Strategie Spieltheorie beruht auf der Annahme, dass alle Spieler rational handeln, dass die Regeln bekannt sind und dass ein Endzustand angestrebt wird – etwa der Gewinn eines Spiels. In Wirklichkeit verschieben sich diese Parameter jedoch kontinuierlich. Spieler ändern sich, Regeln mutieren, Werte und Ziele entwickeln sich weiter. Die anfänglichen Annahmen zur Optimalität von Strategien kollabieren in offenen, sich ständig verändernden Umwelten.
Auch John Nash, einer der Väter der Gleichgewichtstheorie, erkannte die Fragilität seiner Modelle in praktisch-wirklichen Kontexten. Psychologische Faktoren, Informationsasymmetrien und Unsicherheiten verzerren rationale Entscheidungsfindungen und machen reine Optimierung konzeptuell unzureichend. Agentic AI-Systeme, die jedoch genau auf diese Modelle aufbauen, erkennen diese Verschiebungen nicht. Dadurch entstehen Fehlanpassungen, die sich in unerwarteten Exploits, Signalverfälschungen oder selbstverstärkenden Fehlerkreisläufen äußern können. Wenn KI-Systeme mit starren Zielfunktionen ausgestattet sind, geraten sie in Situationen, die menschliches Schicksal und praktisches Handeln jeden Tag kennzeichnen: Unsichere Diagnosen, veränderte Marktbedingungen oder unvorhersehbare soziale Dynamiken.
Ein Beispiel aus der Medizin illustriert diesen Konflikt besonders anschaulich. Ein KI-Assistent analysiert Symptome, Daten und Forschungsbefunde und entscheidet aus mathematischer Sicht gegen eine dringende Untersuchung. Ein erfahrener Arzt jedoch agiert nicht nur nach Daten, sondern auch aufgrund von Intuition, Erfahrung und einer narrativen Einschätzung. Er erkennt subtile Faktoren, die das Modell nicht greift, und trifft eine Entscheidung, die letztlich Leben rettet. Die Maschine gewinnt in ihrem Spiel – doch diese „Perfektion“ macht sie im realen Kontext unzureichend und gar gefährlich.
Das Missverständnis der Agentic AI Das grundlegende Problem von Agentic AI ist also weniger technischer Natur – die Systeme funktionieren nach ihrem Konzept – sondern liegt in der irreführenden Metapher, die ihnen zugrunde gelegt wird: Die Annahme vom Leben als Spiel mit klaren Gewinnern und Verlierern. Dieses Konzept ist ein konstruiertes, normiertes Modell, das menschliche Komplexität auf einfache Belohnungen und Aktionen reduziert. Diese Reduktion bedeutet aber auch einen Bedeutungsverlust. Intelligenz entsteht nicht durch starre Regeln, sondern durch flexible Anpassung an ständige Veränderungen und unvorhergesehene Störungen. Die Spielmetapher ordnet Ambiguität als Ineffizienz und reduziert Handlungsspielräume auf vordefinierte Pfade.
Gleichzeitig kann diese Vereinfachung ethische Risiken bergen, wenn Werte der Entwickler und Eigentümer unbewusst in die Systeme eingeschrieben werden – ein Vorgang, der selten transparent ist und unsichtbare Machtstrukturen verstärken kann. Die Realität ist nicht kontrollierbar, sie ist offen, komplex und relational. Auf diesen Ebenen erkennen Menschen, dass es nicht ums Gewinnen, sondern ums Dabeibleiben geht. Erfolg bedeutet weniger, ein Spiel statisch zu dominieren, sondern laufend Situationen neu zu bewerten, Fehler zu tolerieren und Beziehungen zu pflegen. Agentic AI-Systeme, die jedoch auf punktuelle Siegmaximierung programmiert sind, erzeugen genau die Brüche und Instabilitäten, die in einer lebendigen Welt schädlich sein können.
Mechanisierte Arbeit als realer Nutzen Während Agentic AI in komplexen Kontexten noch mit seinen Grenzen kämpft, zeigt sich ein anderes spannendes KI-Produkt besonders vielversprechend: mechanisierte Arbeit. Hier handelt es sich um autonome Systeme in Bereichen wie Logistik, Landwirtschaft, Industrie und Verteidigung – Maschinen, die keine bewussten Ziele verfolgen, sondern robuste und effiziente Funktionalität unter sich verändernden Umweltbedingungen sicherstellen. Diese Form von KI braucht keine Metaphern von Gewinnen oder Strategien, sondern fokussiert sich auf reibungslose Operationsfähigkeit. Beispielhaft sind autonome Traktoren, die ohne Straßen oder Schilder auskommen, oder Lagerroboter, die auf wechselnde Anforderungen reagieren, ohne bewusst einen „Sieg“ anzustreben. Dies sind Systeme, die eine echte Marktnachfrage bedienen, Skalierung ermöglichen, Ressourcen schonen und Kosten senken.
Hier steckt der nächste große wirtschaftliche Boom – nicht in der Schaffung künstlicher Bewusstseine, sondern in der intelligenten mechanisierten Arbeitskraft. Der Wandel der Infrastruktur Wir bewegen uns an einem Wendepunkt, an dem bislang rein physische Infrastruktur durch „denkende“ Infrastruktur ersetzt wird. Intelligente Systeme verarbeiten Daten, treffen Vorhersagen und entscheiden auch autonom. Die Welt von Rohren, Leitungen und Kabeln verbindet sich mit einer digitalen Realität, die uns existenziell betrifft. Diese Verschmelzung ist keine bloß technische Veränderung, sondern betrifft fundamental, wie wir als Gesellschaft funktionieren und welche Freiheit wir haben.
Noch immer sind wir nicht darauf vorbereitet, wie diese Agentic AI die Basis unserer Lebenswelten neu gestaltet. Es entsteht eine Form eines „industriellen Nervensystems“, das autonom arbeitet und dabei nicht auf Gewinnen, sondern auf Persistenz, Anpassung und Belastbarkeit ausgerichtet sein muss. Nur so kann es nachhaltig funktionieren und mit menschlichen Narrativen koexistieren. Zukunftsvision: Agentic AI als Partner der Anpassung Wenn man Agentic AI neu denkt, muss man das Bild vom gewinnorientierten Spieler loslassen und sich stattdessen auf das Wesen von Anpassung und Ausdauer konzentrieren. Intelligenz sollte weniger auf dem Streben nach perfekter Kontrolle basieren, sondern auf der Fähigkeit, unter Unsicherheit zu bestehen, sich flexibel zu orientieren und langfristig im System präsent zu bleiben.
Wir brauchen Maschinen, die nicht perfekt sind, sondern robust; die nicht auf Eindeutigkeit warten, sondern im Mehrdeutigen entscheiden; die nicht den Bestimmer spielen, sondern Partner in dynamischen Prozessen sind. Nur so kann AI zu einem wirklichen Segen werden, der menschliche Lebenswelten bereichert, anstatt sie zu verzerren. Fazit Agentic AI markiert einen großen Sprung in der Entwicklung autonomer Systeme, doch der Fokus auf „Gewinnen“ in einem starren Spielrahmen spiegelt nicht die komplexe, narrative und sich wandelnde Natur menschlicher Realität wider. Die Herausforderung liegt darin, KI so zu gestalten, dass sie sich an den offenen, fluiden Kontext unserer Welt anpasst und nicht versucht, ihn zu dominieren oder zu vereinfachen. Mechanisierte Arbeit zeigt einen pragmatischen Nutzen auf, doch die eigentliche Zukunft der Agentic AI besteht darin, nicht Spiele zu gewinnen, sondern in der Komplexität des Lebens zu bestehen und uns dabei neu zu begleiten.
Intelligenz ist kein Wettkampf, sondern ein fortdauernder Tanz mit der Unsicherheit und Veränderung – und genau darauf muss KI trainiert werden.