In den letzten Monaten häufen sich Berichte über abgesagte Autismus-Diagnostiktermine. Eltern von Kindern mit Verdacht auf Autismus sowie Erwachsene, die eine offizielle Diagnose anstreben, zögern zunehmend, Termine wahrzunehmen oder überhaupt eine Evaluation zu beantragen. Grund dafür sind Ängste vor der Einführung eines nationalen Registers für Autismusdiagnosen, das von Gesundheitsbehörden und prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens thematisiert wurde. Diese Entwicklung wirft viele Fragen auf – sowohl zu den Auswirkungen auf Betroffene als auch zur Vertrauenskrise gegenüber dem Gesundheitssystem. Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden zunehmend besser erkannt und diagnostiziert.
Die Diagnose ist ein wichtiger Schritt, um individuelle Fördermaßnahmen zu ermöglichen und Unterstützungsangebote zu koordinieren. Doch die aktuelle Verunsicherung hat dazu geführt, dass Menschen sich zurückziehen und den Arztbesuch meiden. Berichte aus verschiedenen Teilen der USA zeigen, dass Familien ihre Kinder nicht mehr evaluieren lassen wollen, aus Sorge, die Daten könnten in ein nationales Register aufgenommen und möglicherweise später missbraucht werden. Michael VanPelt aus New Jersey erzählt eindrücklich von seinem persönlichen Dilemma: Nach langer Suche fand er für seinen dreijährigen Sohn einen Neurologen, der eine Autismus-Diagnose stellte. Anfangs war die Familie erleichtert, da endlich gezielte Hilfen in Aussicht standen.
Doch kurz darauf änderte sich die Stimmung durch Aussagen von hochrangigen Vertretern des Gesundheitsministeriums. Vater VanPelt fragt sich jetzt, ob die Diagnose seinem Sohn langfristig schaden könnte, da seine Daten womöglich für Zwecke verwendet werden, die er nicht verantworten kann. Der Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. spielte eine entscheidende Rolle bei der Entfesselung dieser Ängste.
Seine öffentlichen Kommentare lenkten die Aufmerksamkeit auf ein angeblich bevorstehendes nationales Register für Autismus. Obwohl offizielle Stellen nie klar kommunizierten, dass ein solches Register unmittelbar geplant sei, sorgten die Ankündigungen für erhebliche Unsicherheit. Besonders sorgt die Angst vor einer möglichen Stigmatisierung und einem Verlust der Privatsphäre innerhalb der betroffenen Gemeinschaft für wachsende Ablehnung gegenüber der Diagnostik. Pädiatrische Psychologin Amy Esler von der University of Minnesota bestätigt die steigende Anzahl an Stornierungen von Terminen. Über das Netzwerk International Collaboration for Diagnostic Evaluation of Autism erhält sie Rückmeldungen von mehr als 20 führenden US-Autismusforschungseinrichtungen.
Auch die TEACCH-Autismusambulanz der University of North Carolina meldet eine sinkende Nachfrage nach Diagnostik-Terminvergaben. Diese Entwicklung trifft auch Expertinnen und Experten überrascht und besorgt. Die Diagnose von Autismus ist ein entscheidender Schritt für individuelle Therapieansätze sowie für das Verständnis der neurologischen Vielfalt. Fällt dieser Schritt weg oder wird verschoben, könnten Betroffene auf wichtige Förderungen und schulische Unterstützungsangebote längerfristig verzichten müssen. Es besteht die Gefahr, dass eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen ohne adäquate Hilfen auskommt.
Neben der vielfach fehlenden offiziellen Klarheit trägt auch die politische Atmosphäre zu der Vertrauenskrise bei. Seit Jahren ist die Autismus-Diagnostik bereits ein kontroverses Thema, insbesondere weil Impfgegner die Ursachen des Autismus fälschlicherweise mit Impfungen in Verbindung bringen. Robert F. Kennedy Jr. ist ein bekannter Kritiker von Impfungen und Impfpolitik.
In seinen Reden und Veröffentlichungen bringt er immer wieder Zweifel und Ängste zum Ausdruck, was bei Angehörigen und Betroffenen für Unsicherheit sorgen kann. Die Rolle von Gesundheitsbehörden wie den National Institutes of Health (NIH) ist ebenfalls in der Diskussion. Deren Direktor Jay Bhattacharya wurde zusammen mit Kennedy zitiert, was zusätzlich Misstrauen schürt. Experten betonen allerdings, dass die Absicht der Institutionen darin besteht, Ursachen besser zu erforschen und Betroffenen dadurch gezielter helfen zu können. Einige Autismusforschungszentren versuchen derzeit mit Informationskampagnen, die Sorgen zu adressieren und den Dialog mit den betroffenen Familien zu fördern.
Eine weitere wichtige Facette der Debatte ist der Datenschutz. Datenschutzrechtliche Vorgaben sind in den USA teilweise weniger strikt als in der Europäischen Union, was die Angst vor einem Missbrauch der Daten vergrößert. Familien befürchten, dass eine nationale Datensammlung für unangemessene Überwachungen genutzt werden könnte oder dass Diagnosedaten zu Diskriminierungen in Versicherungen, am Arbeitsplatz oder im Bildungssystem führen. Trotz aller Verunsicherung ist es entscheidend, die Bedeutung der Diagnostik nicht aus den Augen zu verlieren. Frühzeitige Erkennung von Autismus ermöglicht maßgeschneiderte Therapien, die langfristig die Lebensqualität erheblich verbessern können.
Fachleute appellieren daher an Eltern und Betroffene, weiterhin Diagnosen wahrzunehmen und offene Dialoge mit ihren Behandlern zu führen. Darüber hinaus könnte die aktuelle Situation als Weckruf für mehr Transparenz im Umgang mit Gesundheitsdaten dienen. Eine klare Kommunikation der Ziele von Forschungsprojekten und des Umgangs mit sensiblen Daten ist unerlässlich, um das Vertrauen in medizinische Institutionen wiederherzustellen. Öffentlichkeitsarbeit, die Ängste ernst nimmt und sachlich beantwortet, kann helfen, Mythen zu entkräften und die Bedeutung der Diagnostik hervorzuheben. Ebenso fordern viele Experten eine Stärkung der Patientenrechte und Datenschutzvorschriften, damit Betroffene selbst bestimmen können, wie ihre Daten verwendet werden.
Freiwillige Teilnahme und klare Einwilligungen sollten die Grundlage zukünftiger Erhebungen bilden. Nur so lassen sich breite Zustimmung und Unterstützung für wissenschaftliche Forschung sicherstellen, ohne dass sich Personen ausgegrenzt fühlen. In der Zwischenzeit bleibt für viele Familien die Herausforderung, zwischen berechtigtem Schutzbedürfnis und notwendiger medizinischer Versorgung abzuwägen. Die aktuelle Lage zeigt, wie wichtig es ist, dass Verantwortungsträger gesundheitsbezogene Informationen sensibel und transparent handhaben. Nur dann kann Vertrauen entstehen, das es ermöglicht, innovative Forschungsprojekte voranzutreiben und Betroffene bestmöglich zu unterstützen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die derzeitigen Absagen bei Autismus-Evaluierungen ein Symptom für eine tieferliegende Vertrauenskrise sind. Der Verdacht eines nationalen Registers und die politischen Spannungen erhöhen die Unsicherheit innerhalb der Autismus-Community. Ein verstärkter Dialog zwischen Gesundheitsbehörden, Fachgesellschaften und Betroffenen ist notwendig, um Ängste abzubauen und die Versorgung langfristig sicherzustellen. Denn letztlich geht es darum, Menschen mit Autismus effektiv zu helfen und ihre Rechte und Würde zu wahren.