Die digitale Welt ist zu einem unentbehrlichen Bestandteil unseres Alltags geworden. Plattformen wie Instagram, Amazon, Google, Facebook und TikTok prägen, wie wir kommunizieren, einkaufen und Informationen konsumieren. Doch trotz ihrer enormen Bedeutung erleben wir eine schleichende Verschlechterung der Nutzererfahrung und gesellschaftlichen Auswirkungen, die hinter dem Begriff „Enshittification“ zusammengefasst wird. Dieser Begriff beschreibt den Verlauf, den fast jede digitale Plattform nimmt: eine Entwicklung von anfänglicher Innovation und Nutzerorientierung hin zu einer zunehmend kommerziellen, manipulativen und letztlich toxischen Umgebung. Enshittification bedeutet nicht einfach nur schlechten Service oder technische Probleme.
Es ist eine tiefgreifende Transformation, die im Kern durch ein Geschäftsmodell angetrieben wird, das Quartalsgewinne über gesellschaftlichen Nutzen stellt. Beispiele dafür sind vielfältig: Instagram begrenzt die organische Reichweite von Beiträgen und drängt die Nutzer dazu, durch bezahlte Werbung sichtbar zu bleiben. Amazon wirkt wie ein überdimensionales Einkaufszentrum, das mit Glücksspiel-Elementen gestaltet ist und die Nutzer mit endlosen Kaufanreizen überfordert. Google verwandelt sich von einer einfachen Suchmaschine zu einer Anzeigenplattform, in der relevante Suchergebnisse von Werbung erdrückt werden. Facebook wurde zu einem Ort der Wut und Polarisierung, während TikTok seine Nutzer durch einen algorithmisch gesteuerten Dopaminrausch an die App fesselt.
Diese Veränderungen sind kein Fehler oder unvorhergesehene Nebenwirkung. Das zugrunde liegende Geschäftsmodell zwingt Plattformen dazu, Nutzerengagement um jeden Preis zu maximieren. Doch was fördert Engagement? Meistens sind es emotionale Trigger wie Wut, Angst und Spaltung. Die optimierenden Algorithmen konzentrieren sich darauf, diese Mechanismen zu nutzen, um Klicks und Reaktionen zu generieren. Dadurch entstehen Echokammern und Feedback-Schleifen, die extreme und polarisierende Inhalte bevorzugen.
Das Ergebnis scheint festzustehen: Was einst als freie Öffentlichkeit für Informationsaustausch begann, hat sich in einen Kampfplatz der verfeindeten Lager verwandelt. Die Anfänge des Internets waren von hohen Hoffnungen geprägt. Mit Netscape oder dem „Information Superhighway“ wurde eine neue Ära versprochen, in der Demokratisierung von Wissen und sozialer Austausch grenzenlos möglich sein sollten. Doch die Versprechen lösten sich rasch auf. Informationen sind nie neutral oder automatisch wahrhaftig.
Zugleich lösten die neuen Medien die traditionellen Gatekeeper ab – wie Zeitungen, TV-Stationen und Verlage –, die zumindest eine gewisse Filterfunktion erfüllten und gesellschaftliches Vertrauen gewährleisten konnten. Ohne diesen Filter entstand ein Markt, in dem laute, oft extreme Stimmen besonders gut gehört werden und in dem die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verwischt wird. Der Begriff „Enshittification“ lässt sich auch als algorithmische Zivilisationssabotage verstehen. Die ursprüngliche Intention von Technologie war Befreiung: Informationen sofort verfügbar zu machen, Gemeinschaften jenseits von geografischen Grenzen zu ermöglichen und Macht mehr Menschen zugänglich zu machen. Doch Optimierung wurde zur Tyrannei.
Jeder Algorithmus verfolgt heute das Ziel, die Nutzer möglichst lange zu binden, sie zum Kauf zu bewegen oder zur Interaktion zu verleiten. Die Triebkräfte dafür sind unsere tiefsten Instinkte: Emotionen, Tribalismus und die Suche nach Bestätigung in der eigenen Gruppe. Die Plattformen industrialisieren diese Instinkte auf globaler Ebene. Diese Dynamik ist nicht neu. Medien als Unterhaltung sind seit Jahrzehnten bekannt dafür, auf Empörung zu setzen.
Radio- und Fernsehpersönlichkeiten wie Morton Downey Jr., Howard Stern oder Rush Limbaugh bauten ihre Karriere auf Skandalen, Provokationen und der Erzeugung sozialer Spannungen auf. Allerdings hatten sie bisher noch Beschränkungen durch Fernsehsender, Werbekunden oder gesellschaftliche Normen. Das Internet hat diese Grenzen aufgehoben. Personen wie Alex Jones profitierten von einem System, das keinerlei externe Kontrolle duldet.
Algorithmen messen nicht Wahrheit oder Schaden, sondern nur Interesse und Reichweite. So wurde das soziale Gefüge unterminiert und das Vertrauen in Institutionen und eine gemeinsame Wahrheit schwer beschädigt. Dieser Vertrauensverlust ist zentral für das Verständnis der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Krise. Demokratie funktioniert nur, wenn Bürger an die Grundregeln des Miteinanders glauben können: den Respekt vor Fakten, die Hoffnung auf Kompromiss und die Anerkennung von Gegensätzen als legitimen Teil des Diskurses. Wenn Identitätspolitik und Gruppenzugehörigkeiten die Loyalität zur Gesellschaft ersetzen, wandelt sich der politische Wettbewerb in einen Kampf ums Überleben.
Autoritäre Führer profitieren von dieser sozialpsychologischen Erosion, weil die Bevölkerung aus Angst und Verzweiflung nach vermeintlichen starken Handlungsfiguren verlangt. Dabei ist die Entwicklung parteiübergreifend. Wenn sich die politische Linke im Namen von sozialer Gerechtigkeit illiberalen Maßnahmen nähert und die Rechte unter Berufung auf Tradition und Sicherheit autoritäre Tendenzen zeigt, dann teilen beide Seiten das Problem, in denselben toxischen sozialen und medialen Strukturen zu schwimmen. Das Gefühl, dass alle Institutionen korrupt oder unfähig sind, beeinträchtigt das Vertrauen in Demokratie insgesamt. Gleichzeitig erzeugen Plattformen, die Verschwörung und Loyalität über Integrität stellen, eine Umgebung, in der Demokratien untergraben werden.
In Wirklichkeit verläuft der eigentliche Kulturkrieg nicht zwischen Links und Rechts, sondern zwischen denen, die für eine offene Gesellschaft mit geordneten Freiheiten einstehen, und jenen, die – bewusst oder unbewusst – den gesellschaftlichen Zusammenbruch befördern. Der Reiz des Kollapses, die Energie aus Wut und Zynismus, führt zu einer toxischen Dynamik, die sich selbst verstärkt. Die Verlockung, das „System abbrennen zu sehen“, übersieht, dass nach der Zerstörung nicht das Neue, sondern nur Asche bleibt – und diejenigen, die bereit sind, diese Asche zu kontrollieren, oft nicht die besten Absichten verfolgen. Die Verantwortung für diese Entwicklung liegt nicht allein bei den Nutzern, die Klicks generieren, sondern auch bei den Technologiekonzernen und Investoren, die bewusste Entscheidungen getroffen haben, Systeme zu schaffen, die Empörung belohnen und rationale Diskussionen benachteiligen. Das Aufwachsen um die Kommerzialisierung von Aufmerksamkeit und Empörung ist kein zwangsläufiger Prozess, sondern ein durch wirtschaftliche Interessen geprägter Weg.
Der Gegenentwurf muss darin bestehen, die Öffentlichkeit zurückzuerobern, die längst in die digitalen Hände von Algorithmen und Profitmaximierungen gefallen ist. Der Aufbau von Vertrauensgemeinschaften und zuverlässigen Informationsquellen ist heute wichtiger als jemals zuvor. Das bedeutet, bewusster mit Inhalten umzugehen, weniger reaktiv zu teilen und mehr auf differenzierte, faktenbasierte Diskurse zu setzen. Es erfordert auch das Engagement von Kreativen, Journalisten und Bürgern, Räume zu schaffen, in denen Debatten ohne Polarisierung möglich sind und Respekt für unterschiedliche Perspektiven besteht. Plattformen wie Substack, BlueSky, Medium oder YouTube können sowohl für den Zerfall als auch für den Wiederaufbau genutzt werden.
Letztlich ist es nicht die Technologie allein, sondern die Art und Weise, wie sie eingesetzt wird, die den Unterschied macht. Die Rückeroberung der digitalen Öffentlichkeit geschieht nicht von selbst, sondern nur durch das entschlossene Handeln vieler Einzelner, die bereit sind, den mühsamen Weg der Wiederherstellung von Vertrauen und sozialer Bindung zu gehen. In einer Zeit, in der Informationsüberfluss mit Desinformation einhergeht und Algorithmen stärker denn je gesellschaftliche Mechanismen verzerren, ist es eine Frage der Zukunft freier Gesellschaften, ob Bürgerinnen und Bürger sich dieser Herausforderung stellen. Die Alternative ist eine Welt, in der falsche Wahrheiten, Spaltung und Zynismus die öffentliche Debatte bestimmen – und in der Demokratie letztlich an Glaubwürdigkeit und Widerstandskraft verliert. Enshittification ist kein rein technisches Problem, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Nur wenn wir es schaffen, die digitale Welt nicht als vorgegebenen Handlungsraum hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten, können wir den Kulturkrieg der Enshittification gewinnen und eine Gesellschaft formen, die auf Respekt, Wahrheitsfindung und gegenseitigem Verständnis basiert.