Kreativität gilt als eine der wichtigsten Fähigkeiten unserer Zeit, sei es im Beruf, im Alltag oder in der Kunst. Viele Menschen suchen nach Möglichkeiten, ihren kreativen Geist zu beflügeln, doch oft erscheinen die bewährten Methoden wie Brainstorming, Meditation oder das Lernen neuer Fähigkeiten nicht ausreichend oder zu offensichtlich. Ein weniger bekannter und dennoch höchst effektiver Ansatz liegt darin, das Unerwartete zu suchen, sich mit völlig fremden Ideen und Lebensgeschichten auseinanderzusetzen. Genau hier bietet sich ein ungewöhnlicher »Hack« an, der oft übersehen wird: das Lesen von Nachrufen. Warum Nachrufe? Auf den ersten Blick mögen Nachrufe einfach wie eine Sammlung von Daten, Lebensläufen und Totenanzeigen erscheinen.
Doch bei genauerem Hinsehen öffnen sie das Fenster zu weit entfernten Welten und Lebenswegen, die uns unmittelbar inspirieren können. Das Lesen von Nachrufen ist eine Einladung, in völlig andere Erfahrungswelten einzutauchen, weit weg von den eigenen Interessen, Berufen oder der gewohnten Umgebung. Die dabei gewonnenen Einsichten können überraschende Verbindungen in unserem Denken erzeugen, die wiederum kreative Innovationen fördern. Der Schlüssel zur Stärkung der Kreativität liegt in Konzepten, die Psychologen und Kreativitätsforscher seit Jahrzehnten untersuchen. Das Grundprinzip ist einfach: Wer neue Ideen hervorbringen will, muss Verbindungen zwischen scheinbar weit entfernten Informationen herstellen.
Diese Fähigkeit, sogenannte »Remote Associations« zu bilden, unterscheidet kreative Denker von denen, die eher konventionelle Gedankenmuster verfolgen. Forschungsarbeiten zeigen, dass Kreativität dann besonders gedeiht, wenn unser Wissen breit gefächert und gut vernetzt ist. Nachrufe helfen dabei, diese Netzwerke zu erweitern, indem sie uns mit einem breiten Spektrum an ungewöhnlichen biografischen Details in Kontakt bringen. Eine zentrale Theorie, die seit den 1960er Jahren gilt, stammt vom Psychologen Sarnoff Mednick. Er fand heraus, dass kreative Menschen eher fähig sind, weiter entfernte Assoziationen zwischen Begriffen herzustellen.
In seinen Experimenten sollten Beispielsteilnehmer auf ein Wort wie „Tisch“ spontan das erste dazugehörige Wort nennen. Weniger kreative Personen nannten Begriffe wie „Stuhl“ oder „Bein“, während kreativere Probanden auch unerwartete Begriffe wie „Maus“ oder sogar „Nahrung“ nannten. Mednick formulierte daraus die »Assoziationstheorie der Kreativität« und postulierte, dass kreative Ideen vor allem aus der Kombination von weiter entfernten Konzepten entstehen. Neuere Forschung untermauert diese Erkenntnisse noch weiter. Ein Forscher namens Yoed Kenett verwendet das Bild eines inneren »Google«-Suchsystems unseres Geistes, das kreative Ideen fördert, wenn es gelingt, Informationen aus unterschiedlichen Bereichen zu vernetzen.
Seine Studien bestätigen, dass weit auseinanderliegende Konzepte zu besonders originellen Einfällen führen. Diese Erkenntnisse könnten leicht dahin führen, immer gezielter Themenbereiche zu mischen, etwa durch das Kombinieren von Wissenschaft mit Kunst oder Technik mit Philosophie. Doch genau diese Zugangsweise bleibt oft unpraktisch im Alltag. Hier setzen Nachrufe als praktikable Inspirationsquelle an. Wenn wir Sonntagsausgaben von Zeitungen durchblättern, finden wir oft eine ganze Seite mit kleinen Nachrufen – kurz und knapp, aber voller überraschender Details über gelebte Leben.
Diese Berichte stammen meistens nicht von bekannten Prominenten, sondern von Menschen mit gewöhnlichen, jedoch spannenden und vielfältigen Lebenswegen. Man lernt von einem Tag oder Ort zum anderen, von unterschiedlichen Berufen, kulturellen Hintergründen und interessanten Leidenschaften, die man sonst nie über den Weg gelaufen wäre. Das Leben von Berta Escurra etwa, die in Peru geboren wurde, spirituellen Bewegungen folgte, eine TV-Netzwerkgründung in den USA initiierte und viele Welten miteinander verband, offenbart einen Querschnitt durch verschiedenste Bereiche. Ebenso zeigt die Geschichte von Norton Garfinkle, einem Professor und Unternehmer mit vielseitigen Erfindungen von Landminen-Suchgeräten bis zu den ersten selbstbedienten Ladensystemen, wie unterschiedlich und reich die Erfahrungen sein können, von denen wir uns inspirieren lassen. Was genau macht das Lesen von Nachrufen so bereichernd für die Kreativität? Zum einen ist es die Kombination aus Fremdheit und Relevanz.
Die Lebensgeschichten zeigen Wege auf, die sehr unterschiedlich zu unseren eigenen sind, und regen Fragestellungen an, die ungewohnte Denkprozesse aktivieren. Beim Lesen stellt man sich Fragen: Warum hat jemand diesen ungewöhnlichen Weg gewählt? Wie hängt das miteinander zusammen? Was ließ die Person in einer komplett anderen Umgebung Erfolg haben? Diese Fragen fördern strukturierendes und analoges Denken, das auch als „Struktur-Mapping“ bezeichnet wird – ein Prozess, bei dem abstrakte oder nicht offensichtliche Beziehungen von einem Bereich auf einen anderen übertragen werden. Dieser Mechanismus ist essenziell für kreative Prozesse, weil er nicht nur auf Ähnlichkeiten zwischen zwei Dingen abzielt, sondern Beziehungen und Strukturen versteht, die auf völlig neue Situationen angewandt werden können. Wenn ein Erfinder zum Beispiel das natürliche Prinzip von Klettverschlüssen in der Natur beobachtet und auf die Herstellung von Kleidung überträgt, dann nutzt er genau diese Fähigkeit, entfernt liegende Bereiche zu verbinden und daraus Neues zu schaffen. In der heutigen digitalen Welt neigen wir dazu, uns ständig in Echokammern zu bewegen, in denen uns Algorithmen nur Informationen liefern, die unseren vorhandenen Interessen entsprechen.
Das kann den kreativen Horizont stark einschränken, denn die neue Inspiration entsteht meistens da, wo wir nicht aktiv suchen. Der Zufall und das Staunen über Fremdes sind wichtige Zutaten für den kreativen Funken. Das Lesen von Nachrufen bietet hier eine Art geordnetes Stochern im Unbekannten an, eine Chance, in Geschichten einzutauchen, die eigentlich weit entfernt vom eigenen Alltag sind und doch durch die Menschlichkeit und Narrative Vertrauen aufbauen. Die Praxis des Nachrufe-Lesens ist einfach und gleichzeitig tiefgründig: Anstatt nur mit Absicht auf der Suche nach einer Idee zu lesen, lässt man die Details auf sich wirken. Es geht nicht darum, jedes Detail zu analysieren oder direkt eine Erfindung abzuleiten, vielmehr sollte man mit offenem Geist und Neugier nachverfolgen, wo die Gedanken hinwandern.
Einzigartige, unerwartete Verbindungen entstehen oft unbewusst, wenn der Geist eine größere Vielfalt an Eindrücken erhält und beginnt, sie miteinander zu verknüpfen. Dies ist ein Schlüsselmerkmal kreativer Prozesse: es ist ein längeres, sich entwickelndes Muster, das sich nicht erzwingen lässt. Man spricht auch von der Bedeutung des »Vorbereitungsstadiums«, in dem viel Input aufgenommen wird, bevor die eigentliche kreative Einsicht oder der Geistesblitz kommt. Das Lesen von Nachrufen bereitet sozusagen den Boden, indem auf scheinbar zufällige Weise neues Wissen und neue Perspektiven gesammelt werden. Langfristig eröffnen sich durch dieses Vorgehen zahlreiche Möglichkeiten.
Es trainiert unsere geistige Flexibilität, macht uns öffentlicher für neue Denkmuster und kann verhindern, dass wir in eingefahrenen Denkweisen verharren. Gerade in Berufen, in denen ständige Innovation gefragt ist, beispielsweise in der Forschung, im Design oder im Management, kann eine regelmäßige Praxis dieser Art die Kreativität nachhaltig fördern. Wer jedoch effektive kreativitätsfördernde Routinen etablieren möchte, sollte noch einige Dinge beachten. Wichtig ist, beim Lesen der Nachrufe nicht vorschnell zu selektieren oder nur bekannte Lebensgeschichten herauszufiltern. Gefragt ist die bewusste Konfrontation mit Fremdem und Ungewohntem.
Auch wenn manche Geschichten zunächst banal erscheinen mögen, bergen sie oft verborgene Erkenntnisse, die beim zweiten oder dritten Nachdenken an Bedeutung gewinnen. Ebenso ist der Impuls, Fragen zu stellen und hinter die Lebensgeschichten zu schauen, bedeutend. So entsteht ein Prozess, der über bloße Faktenvermittlung hinausgeht. Man entwickelt eine Art innere Erzählmaschine, die Prinzipien sucht, Zusammenhänge schafft und neue Kontexte baut. Dies ist die geistige Übung, die Kreativität trainiert.