Baumklettern ist mehr als nur ein sportliches Abenteuer – es ist ein Weg, die Natur aus einer völlig neuen Perspektive zu erleben und ein tieferes Verständnis für die komplexen ökologischen Zusammenhänge zu gewinnen. Bei meinem ersten Baumkletter-Workshop, der in einem entlegenen Waldgebiet in Massachusetts stattfand, habe ich genau das erlebt. Die Erfahrung war geprägt von überwältigenden Eindrücken, körperlicher Herausforderung und emotionaler Entwicklung, die mich nachhaltig geprägt hat. Die Veranstaltung wurde von den Zwillingsschwestern Bear LeVangie und Melissa LeVangie Ingersoll ins Leben gerufen, beide erfahrene Baumkletterinnen und Expertinnen auf ihrem Gebiet. Der Workshop richtet sich vor allem an Frauen, die aus verschiedensten Beweggründen teilnehmen.
Viele üben beruflich eine Tätigkeit im Bereich der Baumpflege oder Naturwissenschaften aus, während andere sich einfach aus Neugier und Sehnsucht nach einem intensiveren Naturerlebnis angemeldet haben. Die Atmosphäre im Workshop war von Respekt, gegenseitiger Unterstützung und einer besonderen Offenheit geprägt, die es allen Teilnehmerinnen ermöglichte, ihre Ängste zu überwinden und Selbstvertrauen zu gewinnen. Für manche sind Bäume nur Hintergrundkulisse, statische Elemente in der Landschaft, doch für die Baumkletterinnen sind es lebendige Organismen, die vielfältige Ökosysteme beherbergen und eine entscheidende Rolle für das Klima, Wasserhaushalt und das Leben zahlreicher Tierarten spielen. Während der Klettereinheiten wurde mir dies auf eindrucksvolle Weise bewusst. Die mächtigen Hemlocktannen, die wir bestiegen, sind für ihre Langlebigkeit bekannt und können bis zu fünfhundert Jahre alt werden.
Ihre dichten Äste sind Heimat für Eichhörnchen, Singvögel und viele andere Tiere. Zu spüren, wie die Äste unter meinem Gewicht leicht nachgaben und Teil dieses fragilen aber widerstandsfähigen Netzwerks waren, ließ mich die Bedeutung des Baumschutzes neu verstehen. Eine besondere Herausforderung war für mich die Überwindung meiner Höhenangst, die sich nach der Geburt meiner Kinder verstärkt hatte. Die ersten Schritte in luftiger Höhe verursachten ein Kribbeln in den Beinen und ein Gefühl schwindender Sicherheit. Doch mit jedem Aufstieg lernte ich, mich auf mein Equipment, die sorgfältigen Techniken und vor allem auf mich selbst zu verlassen.
Die schrittweise Anleitung sowie die ermutigenden Worte der anderen Teilnehmerinnen halfen enorm dabei, die Angst wahrzunehmen, aber ihr nicht die Kontrolle zu überlassen. Dabei wurde das Klettern zu einer Metapher für persönliche Grenzen, die wir nur durch Mut und Vertrauen überwinden können. Über den physischen Aspekt hinaus bot der Workshop viele Möglichkeiten zur Selbstreflexion. Gespräche mit den anderen Frauen offenbarte Geschichten von Diskriminierung und Schwierigkeiten in einer traditionell von Männern dominierten Branche, aber auch von Solidarität und Empowerment. Das gemeinsame Erlebnis schuf ein starkes Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit, fast wie ein natürliches Netzwerk, das uns miteinander verbindet.
Das sogenannte myzeliale Netzwerk, auf das die Organisatorinnen hinweisen, beschreibt nicht nur Pilzstrukturen unter der Erde, sondern symbolisiert die unsichtbaren Verbindungen zwischen Menschen und der Natur. Klimawandel und Umweltzerstörung waren ebenfalls zentrale Themen während des Workshops. Durch das physische Erleben der Bäume wurde die Dringlichkeit des Schutzes dieser lebendigen Wesen und ihrer Ökosysteme greifbarer. Die extreme Hitze, Trockenheit, Krankheiten und Schädlinge setzen den Wäldern massiv zu. Das schmerzliche Bewusstsein um die existenziellen Gefahren für die Natur und damit auch für uns Menschen, die von ihr abhängig sind, wurde durch das direkte Erleben und den Austausch mit Experten und Gleichgesinnten intensiver.
Was mich am meisten beeindruckt hat, war die Transformation, die viele der Teilnehmerinnen erfahren haben. Der Workshop war für sie oft der Beginn einer Rückbesinnung auf die Natur und einer Erweiterung ihres Selbstbewusstseins. Viele erzählten, wie sie durch das Klettern nicht nur ihre körperlichen Grenzen verschieben, sondern auch persönliche und berufliche Veränderungen angestoßen haben. Die neu gewonnene Verbindung zur Umwelt wirkte inspirierend und unterstützend bei der Bewältigung von Ängsten und Lebenskrisen. Das Baumklettern lehrte mich, dass man die Natur nicht nur als Ressource oder Kulisse betrachten darf.
Vielmehr sind Bäume lebendige Wesen, die durch zahlreiche Lebewesen miteinander verbunden sind und uns Menschen auf vielfältige Weise unterstützen – von der Luftreinigung über das Regulieren von Temperaturen bis hin zu kulturellen und historischen Werten. Dieses Verständnis kann helfen, ein nachhaltigeres und fürsorglicheres Verhältnis zur Natur zu entwickeln. Auch wenn die praktische Anwendung von Techniken und die körperliche Herausforderung im Vordergrund stehen, ist es die emotionale und spirituelle Dimension, die das Baumklettern für mich so bereichernd macht. Der Moment, wenn man hoch oben zwischen den Ästen schwebt und auf die Welt von oben blickt, schenkt eine Ruhe und Einsicht, die im hektischen Alltag häufig verloren geht. Es ist eine Einladung, achtsam zu sein, sich zu verbinden und Verantwortung für unseren Planeten zu übernehmen.
In der heutigen Zeit, in der die Zerstörung der Wälder dramatische Formen annimmt und der Klimawandel fortschreitet, ist es wichtiger denn je, den Blick zu schärfen und die Natur nicht aus den Augen zu verlieren. Baumkletter-Workshops wie jener, an dem ich teilgenommen habe, bieten nicht nur körperliche Fitness und Abenteuer, sondern auch eine tiefgreifende Bildungs- und Gemeinschaftserfahrung. Sie ermöglichen es, die eigenen Ängste zu überwinden, neue Fähigkeiten zu erlernen und die Verbundenheit mit der Umwelt zu stärken. Abschließend kann ich sagen, dass der Baumkletter-Workshop für mich ein Wendepunkt war – eine Erfahrung, die weitreichender ist als das Klettern selbst. Es war eine Lehre über Mut, Vertrauen und Respekt gegenüber der Natur und dem eigenen Selbst.
Indem wir uns mehr auf die Bäume und ihre Bedeutung einlassen, tragen wir dazu bei, sie zu schützen und damit auch uns selbst. Die Einladung, “in die Bäume zu gehen”, ist gleichzeitig ein Appell, unsere Verantwortung für den Planeten wahrzunehmen und eine nachhaltige Zukunft mitzugestalten.