Die Chemie des Stickstoffs erlebt derzeit einen bedeutenden Durchbruch: Die erstmalige Synthese und Charakterisierung eines neutralen Stickstoffallotrops mit der Zusammensetzung Hexanitrogen C2h-N6 öffnet neue Türen für Forschung und Anwendungen. Diese Form von molekularem Stickstoff, die aus sechs neutralen Stickstoffatomen besteht und sich durch ihre unerwartete Stabilität auszeichnet, wurde bisher als extrem instabil und synthetisch kaum zugänglich eingeschätzt. Die erfolgreiche Herstellung von C2h-N6 stellt somit einen Meilenstein im Bereich der Polynitrogene dar und könnte die Entwicklung neuer energieeffizienter Materialien maßgeblich vorantreiben. Stickstoff ist als Molekül N2 allgegenwärtig in der Atmosphäre und bekannt für seine chemische Trägheit und Unbedenklichkeit für Umwelt und Gesundheit. Die meisten Nitrogenallotrope außerhalb des zweifachen Moleküls N2 sind bisher ungeklärt oder nur als geladene Ionen oder im Festkörper unter extremen Bedingungen erforscht.
Die Synthese neutraler und stabiler Stickstoffmoleküle mit höherer Atomanzahl galt lange als Herausforderung, da die starke Bindung im N2-Molekül und die hohe Reaktivität frei werdender Stickstoffmoleküle die Existenz solcher Allotrope erschwert. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat sich intensiv mit dem Ziel beschäftigt, Polynitrogene herzustellen, um deren hohes Energiepotential zu erschließen. Energieträger, die ausschließlich aus Stickstoff bestehen, könnten durch ihre Zersetzung nur umweltfreundliche Stickstoffgase freisetzen, ohne schädliche Rückstände. Somit sind sie grundsätzlich vielversprechend für nachhaltige Energiespeicherung oder als umweltverträgliche Sprengstoffe. Während in der Vergangenheit Ionen wie die Pentazitolanionen (N5–) und bestimmte Polynitrogen-Salze isoliert wurden, war die für viele Bereiche interessante neutrale Molekülform bisher unbekannt.
Das Team unter der Leitung von Weiyu Qian, Artur Mardyukov und Peter R. Schreiner hat nun einen Weg gefunden, das lang gesuchte C2h-Hexanitrogenmolekül zu synthetisieren und dessen stabile Existenz mit verschiedenen spektroskopischen Methoden zu verifizieren. Die Herstellung erfolgt in einem innovativen Verfahren, das auf der Reaktion von Chlor- oder Bromgas mit Silberazid (AgN3) unter reduzierten Druckbedingungen beruht. Im Anschluss wird das Produkt in Argon-Matrizen bei extrem tiefen Temperaturen von 10 K eingefroren, um das Produkt zu stabilisieren und exakt analysieren zu können. Die Analyse des erzeugten neutralen N6-Moleküls erfolgt sowohl durch Infrarot- als auch durch UV-Vis-Spektroskopie kombiniert mit isotopenmarkierten Experimenten und hochpräzisen ab initio Berechnungen.
Die charakteristischen Schwingungsfrequenzen bestätigen die Anwesenheit zweier speziell verbundener Azidgruppen im Molekül. Besonders beeindruckend ist die Stabilität des N6-Moleküls selbst bei Temperaturen von flüssigem Stickstoff (77 K), wenn es als reines Filmpräparat hergestellt wird. Diese bemerkenswerte Stabilität hebt Hexanitrogen von vielen anderen bisher postulierten, jedoch nie isolierten neutralen Polynitrogenmolekülen ab. Im Vergleich zur Naturform N2 besitzt das Hexanitrogenmolekül eine kompliziertere Struktur. Es ist kein einfacher Verbund aus drei N2-Einheiten, sondern bildet eine acyclische Struktur mit einer C2h-Symmetrie, die eine interessante elektronische Verteilung aufweist.
Hochentwickelte Berechnungen zeigen, dass das zentrale N3–N4-Bindung eine gewisse Schwachstelle darstellt, jedoch die Aufspaltung in zwei Azid-Radikale energetisch ungünstig ist. Stattdessen bevorzugt das Molekül die Zersetzung in drei N2-Moleküle – ein Prozess, der mit einer relativ hohen Aktivierungsbarriere einhergeht. Diese Barriere sorgt für eine zeitliche Stabilität, die selbst bei Raumtemperatur eine kurze Lebensdauer ermöglicht und unter Kryobedingungen stark verlängert wird. Aus energetischer Sicht liefert die Zersetzung von Hexanitrogen eine enorm hohe Energiemenge, die deutlich über der von bekannten Sprengstoffen wie TNT oder HMX liegt. Die im Labor bestätigten Werte zeigen, dass das Molekül eine potenzielle Grundlage für neue Hochleistungsenergieträger ist, die durch ihre reine Stickstoffzusammensetzung keinerlei schädliche Emissionen bei der Freisetzung hinterlassen würden.
Dieses Kriterium macht C2h-N6 besonders attraktiv für nachhaltige Technologien und sicherheitsrelevante Anwendungen. Die Synthese von Hexanitrogen erfolgt durch die kontrollierte Zufuhr von Cl2- oder Br2-Gas an eine beschichtete Schicht von Silberazid unter reduzierten Druckbedingungen. Dabei entstehen im Gasphasenreaktor flüchtige Zwischenprodukte, welche nach dem Einfangen in einer kryogenen Argon-Matrix bei extrem niedrigen Temperaturen analysiert werden. Die gemessenen IR-Spektren zeigen deutlich neue Peaks, die nicht zu den Ausgangsstoffen oder bekannten Nebenprodukten gehören und durch photolytische Experimente weiter bestätigt wurden. Isotopenmarkierungen mit 15N erlauben darüber hinaus die detaillierte Zuordnung der Schwingungsmodi.
Diese Kombination von experimentellen und rechnerischen Methoden liefert einen robusten Nachweis für das Vorhandensein von Hexanitrogen. Das ungewöhnliche Verhalten von N6, einschließlich der Fermi-Resonanzeffekte in den gemessenen IR-Bändern, konnte durch fortschrittliche rechnerische Analysen erklärt werden. Die UV-Vis-Spektren zeigen übereinstimmende elektronische Übergänge mit den theoretisch vorhergesagten Werten, was die Strukturvalidierung unterstreicht. Anhand der Quantentheorie wurden auch die Bindungsverhältnisse in N6 untersucht. Dabei zeigt sich eine Elektronendichteverteilung, die eine Realität zwischen Einfach- und Doppelbindungen in den N–N-Bindungen widerspiegelt.
Insbesondere visualisierte Darstellungen der Elektronendichte-Laplacianen und Elektron-Lokalisationsfunktionen liefern Einsichten in die Bindungsstärke und Zerfallspfade des Moleküls. Die zentrale Bindung gilt aufgrund einer elektronischen Schwäche als potenzieller Bruchpunkt, jedoch bleibt die Verbindung insgesamt überraschend robust. Die Möglichkeit, Hexanitrogen als neutrales Molekül als festen Film bei 77 K zu erzeugen und dort für längere Zeit stabil zu halten, eröffnet Perspektiven für weitere Anwendungen und vertiefende Untersuchungen. So könnte beispielsweise die Integration solcher Polynitrogene in neue Energiespeichersysteme, Treibstoffe oder umweltfreundliche Sprengstoffe erfolgen. Die spontane Umwandlung in molekularen Stickstoff ohne toxische Rückstände macht die Verbindung besonders interessant für ökologische und sicherheitstechnische Fragestellungen.
Zudem unterstreicht die erfolgreiche Herstellung von C2h-N6, dass die Suche nach neutralen polynitrogenen Molekülen nicht nur theoretische Spielerei, sondern ein lohnendes Forschungsgebiet ist. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass trotz der inhärenten Schwierigkeiten durch Instabilität und Zerfallsneigung eine gezielte Synthese unter kontrollierten Bedingungen möglich ist. Diese Erkenntnis kann zukünftig zur Entdeckung neuer Polynitrogene mit unterschiedlichen Strukturen, Eigenschaften und Anwendungen führen. Der wissenschaftliche Erfolg dieser Studie basiert auf der Kombination experimenteller Hochpräzision und modernster theoretischer Berechnungsmethoden. Die Zusammenarbeit zwischen Synthesechemikern und Quantenchemikern hat sich als Schlüssel erwiesen, um die komplexen Herausforderungen bei der Entdeckung eines so neuartigen Moleküls zu meistern.
Die Evidenz wurde mehrfach abgesichert, um Fehldeutungen auszuschließen und ein vollständiges Verständnis der molekularen Eigenschaften zu gewährleisten. Der Schutz von Innovationen wurde bereits durch eine europäische Patentanmeldung umgesetzt, was die Bedeutung der Entdeckung im industriellen und angewandten Umfeld reflektiert. Die Weiterentwicklung und Kommerzialisierung solcher neuartiger energiereichen Stickstoffmoleküle könnten mittelfristig zu revolutionären Veränderungen im Bereich der Energiespeicherung, Antriebe oder Sprengstoffe führen. Zusammenfassend stellt die Entdeckung und Synthese von neutralem Hexanitrogen C2h-N6 einen paradigmatischen Fortschritt in der Chemie dar, der nicht nur das Verständnis von Stickstoffverbindungen erweitert, sondern auch das enorme Potenzial von Polynitrogenen als ökologisch verträgliche und leistungsstarke Energiematerialien illustriert. Die Kombination aus experimenteller Machbarkeit, spektroskopischer Charakterisierung und theoretischer Fundierung macht das Molekül zu einem vielversprechenden Kandidaten für zukünftige Anwendungen in Wissenschaft und Technik.
Die anhaltende Erforschung dieses vielseitigen Stoffes könnte letztlich den Weg für nachhaltige, sichere und hochenergetische Materialien ebnen, die den Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts gerecht werden.