Im Herzen Nordzentral-Europas, genauer gesagt an der Fundstelle Schöningen in Deutschland, fanden Archäologen Belege für gemeinsame Pferdejagden, die etwa 300.000 Jahre zurückreichen. Diese Entdeckungen werfen ein neues Licht auf die sozial-kommunikativen Fähigkeiten und die geistige Ausgereiftheit frühmenschlicher Gruppen lange vor der bislang angenommenen Schwelle der „modernen“ Menschheit. Das Bild von Jägern und Sammlern der Steinzeit muss daher kräftig überdacht werden, denn es waren offenbar hochentwickelte, strategisch denkende Gemeinschaften, die mit feiner Koordination und überlegtem Jagdmanagement erfolgreich Pferdeherden erlegten. Die Funde von Schöningen gehören zu den ältesten Belegen für Holzwaffen wie Speere und zeigen, dass unsere Vorfahren keineswegs primitive Einzelkämpfer in der Wildnis waren, sondern begabte Taktiker in komplexen Jagdgesellschaften.
Sie nutzten dabei nicht nur die unmittelbare Umgebung optimal aus, sondern besaßen ein detailliertes Wissen um das Verhalten der Pferde und konnten dieses gezielt für ihre Zwecke einsetzen. So koordinierten sie eine ganze Gruppe von Jägern auf einer weiten Marschlandschaft mit Flussläufen und bewaldeten Bereichen, um Familiengruppen von wilden Pferden in Fallen anzutreiben. Besonders interessant ist dabei die Beobachtung, dass die Pferdefamilien – bestehend aus einem Hengst, mehreren Stuten und deren Nachkommen – einem routinierten Fluchtverhalten folgten, das die Jäger genau kannten. Diese wussten in ihrem Jagdplan, wohin die Herde gelenkt werden musste, um sie in einer natürliche Falle am Seeufer zu stellen. Dort verlangsamte der schlammige und unebene Boden der Uferregion die Flucht der Tiere, und versteckte Jäger konnten mit Wurfspeeren angreifen.
Ein weiterer Teil der Gruppe sperrte Fluchtwege ab, so dass eine systematische und gemeinschaftliche Jagd mit einem hohen Erfolg stattfand. Die wissenschaftliche Auswertung der Überreste von mehr als 50 Pferden zeigt, dass diese Jagden keineswegs Zufallsbegegnungen mit einzelnen Tieren waren. Vielmehr handelte es sich um wiederkehrende, gut geplante Unternehmungen, die über Generationen praktiziert wurden. Die Zusammensetzung der erlegten Tiere, vor allem die Jagd auf Familiengruppen und das Auslassen bestimmter Altersgruppen wie der Adoleszenten, spricht für ein ausgeklügeltes Wissen über demografische Strukturen und soziales Verhalten der Pferdeherden. Auch das selektive Verzehren von bestimmten Fleisch- und Fettanteilen der Tiere zeigt, dass diese frühen Jäger über ein tiefes Verständnis für ausgewogene Ernährung verfügten.
Ein besonders herausragendes Merkmal des Fundortes ist die große Menge an Holzspeeren – eine der ältesten Waffengattungen überhaupt – die dort entdeckt wurden. Sie verdeutlichen die handwerklichen Fähigkeiten und das technologische Wissen der damaligen Menschen. Hinzu kommen zahlreiche steinerne Werkzeuge, die zum Zerteilen von Fleisch und Knochen dienten, sowie Spuren von Bearbeitung von Tierhäuten. Bemerkenswert ist, dass bislang keine Hinweise auf kontrollierte Feuerstellen vor Ort gefunden wurden, was Fragen über die Ernährungstechniken jener Zeit aufwirft und darauf hindeutet, dass die Beute oft roh verzehrt oder nur teilweise vor Ort verarbeitet wurde. Die Schöninger Funde stellen damit die gängige Ansicht in Frage, dass modernes menschliches Verhalten erst vor zirka 50.
000 Jahren aufkam. Wiederholte wissenschaftliche Studien zeigen, dass viele Merkmale komplexen Denkens, sozialen Miteinanders und kultureller Praxis bereits viel früher zu beobachten sind, und zwar nicht nur bei Homo sapiens, sondern auch bei nahe verwandten Vormenschen wie den Neandertalern oder Homo heidelbergensis. Diese Entdeckung fordert nicht nur die zeitliche Einordnung der kognitiven Entwicklung heraus, sondern stellt auch den bisher stark anthropozentrischen Blick auf den Ursprung von Kooperation, Sprache und Symbolik auf den Prüfstand. Die Fähigkeit, komplexe Gemeinschaftsjagden zu planen und durchzuführen, erfordert differenzierte Kommunikation, Arbeitsteilung und strategisches Denken – alles Merkmale, die bisher als exklusiv modernes menschliches Verhalten galten. Darüber hinaus gibt es archäologische Hinweise darauf, dass diese frühen Jäger nicht nur in der Jagd selbst zusammenarbeiteten, sondern soziale Rituale, symbolische Handlungen und möglicherweise sogar rudimentäre Formen von Sprache entwickelten.
Beispielsweise wurden an verwandten Fundstätten ringförmige Strukturen aus Stalagmiten oder Spuren von Höhlenmalerei entdeckt, die auf ein komplexeres geistiges Leben hindeuten. Über die Zusammenhänge von Jagdpraxis und sozialen Strukturen lassen sich Parallelen zu historischen und heutigen Jagdkulturen auf der ganzen Welt ziehen. Ethnographische Studien zeigen, dass gemeinschaftliche Jagden nicht nur der Nahrungsbeschaffung dienen, sondern auch zentral für soziale Bindungen, Partnersuche, Wissenstransfer und kulturelle Identität sind. Es ist denkbar, dass die Gemeinschaften in der Mittelsteinzeit ähnliche soziale Funktionen durch ihre Jagden erfüllten und damit wichtige Grundlagen für die Entwicklung von modernen Gesellschaften legten. Neben Schöningen gibt es außerdem andere wichtige Fundstellen, wie beispielsweise die Höhle in Atapuerca, Spanien, an denen ebenfalls systematische Gemeinschaftsjagden großer Tiere wie Bisons nachgewiesen wurden.
Auch dort wird die Mentalität früher Menschen als weitaus differenzierter und organisierter dargestellt, als dies lange angenommen wurde. Die modernen archäologischen Methoden ermöglichen heute eine präzise Rekonstruktion solcher Jagdszenarien, indem Tierknochen, Werkzeugspuren, Umweltbedingungen und sogar demografische Merkmale der Beutetiere umfassend analysiert werden. Diese multidisziplinären Studien stärken das Bild von frühen Menschen als „Persistent Predators“ – geduldige, vorausschauende Jäger, die mit fundiertem Wissen und Gemeinschaftssinn ihre Nahrung beschafften. Auch die Abwesenheit direkter Menschfossilien an diesen Orten stellt keine Hürde dar, um die kognitiven Fähigkeiten jener Jäger zu beurteilen. Die Verknüpfung anatomischer, archäologischer und ökologischer Daten erlaubt es Experten, Schlüsse über die soziale Organisation und Denkweise der damaligen Populationen zu ziehen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Urzeitgemeinschaften rund um die uralten Pferdejagden in Schöningen und anderen Fundstätten unsere Vorstellungen von evolutionärem Fortschritt erheblich verändern. Sie zeigen, dass soziales Miteinander, kulturelles Wissen und technische Innovationen keine plötzlichen, kurzen Ereignisse in der Menschheitsgeschichte sind, sondern das Ergebnis langwieriger Entwicklung, beginnend vor mehreren hunderttausend Jahren. Dadurch verliert der Begriff der „modernen menschlichen Verhaltensweise“ seine starre zeitliche Bindung und öffnet die Tür für eine umfassendere Sichtweise auf die komplexe Geschichte unseres Denkens, Handelns und Zusammenlebens.