Sprachen sind weit mehr als nur Kommunikationsmittel – sie sind Spiegel der Kulturen und ihrer Umwelt. Schon lange beschäftigen sich Linguisten mit der Frage, inwieweit Sprache die Wahrnehmung und Denkweisen von Menschen beeinflusst. Eine besonders bekannte und zugleich kontroverse These dreht sich um die Behauptung, dass die Inuit-Sprachen Hunderte von Begriffen für Schnee besitzen. Diese Idee war lange Zeit umstritten und wurde sogar als Sprachmythos oder „Hoax“ abgetan. Aktuelle Forschungen jedoch offenbaren, dass hinter dieser sprachlichen Vielfalt tatsächlich ein tiefer kultureller Zusammenhang steckt und ähnliche Muster auch in anderen Sprachen weltweit zu finden sind.
Die Geschichte dieser Diskussion beginnt im 19. Jahrhundert mit dem Anthropologen Franz Boas, der 1884 von seiner Expedition auf Baffin Island zurückkehrte und berichtete, dass die einheimische Inuit-Sprache mehrere Worte für unterschiedliche Schneearten bereithielt. Seine Beobachtung wurde im Laufe der Zeit übertrieben und verfälscht, bis in den 1980er Jahren in einer New York Times-Kolumne sogar von über hundert Begriffen für Schnee gesprochen wurde. Dieses übersteigerte Bild führte dazu, dass Linguisten wie Geoff Pullum in den 1990er Jahren die gesamte Diskussion als Hirngespinst ablehnten und als „Hoax“ brandmarkten. Die Debatte war damit für Jahrzehnte verbrannt, und linguistische Kreise hielten sich davon fern.
Der neue Blick auf diese Thematik zeichnet sich durch moderne computergestützte Methoden aus, die systematisch eine Vielzahl von Sprachen weltweit untersuchen und Sprachmuster analysieren. In einer groß angelegten Studie, veröffentlicht im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences USA, wurde eine umfangreiche Auswertung zweisprachiger Wörterbücher zwischen Englisch und über 600 anderen Sprachen unternommen. Dabei rückte nicht mehr die absolute Anzahl von Wörtern zu einem Begriff in den Fokus, sondern ihre relative Bedeutung innerhalb der jeweiligen Sprache – also wie viel „Platz“ ein bestimmtes Konzept in einem Wörterbuch im Verhältnis zur Gesamtzahl der definierten Begriffe einnimmt. Das Ergebnis: Die besondere Ausprägung von Vokabularen zeigt sich nicht nur bei Schnee in der Inuit-Sprache Inuktitut, sondern auch bei anderen Konzepten in verschiedenen Sprachen. Lava und vulkanische Begriffe nehmen im Samoanischen einen hohen Stellenwert ein, während im Schottischen Brot und speziell Haferbrei eine herausragende sprachliche Präsenz zeigen.
Solche Spezialisierungen geben uns einen Einblick in die „Chefinteressen“ eines Volkes, wie es der Psychologe Charles Kemp treffend beschreibt. Die Sprache kann damit Hinweise darauf geben, was für eine Gesellschaft wirklich wichtig ist und welchen kulturellen Wert sie bestimmten Naturphänomenen oder Lebensbereichen zuschreibt. Interessant sind die Umgebungsfaktoren, die zu solchen sprachlichen Spezialisierungen führen. So erklärt es sich von selbst, dass Wüstenbegriffe in Sprachen des arabischen Raums oder der australischen Ureinwohner besonders reichhaltig sind. Elephantenspezifischen Wörterbücher finden sich in südasiatischen Sprachen wie Sanskrit, Tamil oder Thai – eine logische Ergänzung in Regionen, in denen diese Tiere seit jeher eine große Rolle spielen.
Noch geheimnisvoller erscheinen sprachliche Schwerpunkte in Bereichen wie Geruchswahrnehmung in Ozeanischen Sprachen. Die Sprache Marshallese etwa hat einzelne Wörter, die präzise und sehr unterschiedlich Gerüche beschreiben, beispielsweise den Geruch von Blut oder von feuchter Kleidung. Dies könnte mit dem tropisch feuchten Klima zusammenhängen, das Gerüche hervorhebt und ihre Differenzierung im Alltag notwendig macht. Diese neuen Erkenntnisse werfen auch ein Licht auf die anhaltende Diskussion um die sogenannte linguistische Relativität oder den Sapir-Whorf-Hypothese. Diese besagt, dass Sprache die Denkweise und Wahrnehmung prägt oder zumindest beeinflusst.
Lange wurde dieses Konzept kontrovers diskutiert – besonders weil die extremste Form, dass Sprache die Wahrnehmung komplett determiniert, wenig Belege findet. Der Linguist Victor Mair schlägt eine moderate Sichtweise vor: Sprache beeinflusst zwar subtil, legt uns aber keine Grenzen auf. Der Unterschied zwischen Sprachen bedeutet ganz einfach, dass Sprecher verschiedener Kulturen die Welt etwas unterschiedlich wahrnehmen und priorisieren, ohne dass dies strikt determiniert ist. Damit verbunden ist auch die Erkenntnis, dass Sprachvielfalt nicht unbedingt kognitive Überlegenheiten bedeutet, sondern eher praktische und kulturelle Notwendigkeiten widerspiegelt. Ein einzelnes Wort wie das marshallesische „jatbo“ für „Geruch von feuchter Kleidung“ ist effizienter als eine lange Umschreibung.
Deshalb entstehen solche Wörter vor allem dann, wenn ein Konzept im Alltag sehr häufig besprochen wird und somit eine sprachliche Verdichtung sinnvoll ist. Natürlich bedeutet das nicht, dass Englisch oder andere Sprachen die Welt weniger differenziert erfassen – lange Umschreibungen erfüllen denselben Zweck, nur weniger kompakt. Die Studie weist aber auch auf wichtige methodische Herausforderungen hin. Die Analyse war auf bilingualen Wörterbüchern aufgebaut, die jeweils auf Englisch basieren. Das bedeutet, dass die Ergebnisse stets von Bedeutung und Ausdrucksmöglichkeiten des Englischen mitbestimmt sind.
Ein Konzept, das im Englischen wenige Wörter hat, kann dadurch in anderen Sprachen im Vergleich besonders hervortreten. Wäre die Ausgangssprache beispielsweise Spanisch oder Chinesisch gewesen, hätten sich andere Sprachkonzepte als besonders elaboriert herauskristallisiert. Zudem sind Wörterbücher zeitlich fixiert und spiegeln manchmal auch koloniale oder historische Blickwinkel wider, die heute nicht mehr ganz zeitgemäß sind und nur Ausschnitte einer Sprache erfassen. Zukünftige Forschungen könnten daher auf gesprochene Sprache und schriftliche Korpora zurückgreifen, speziell auf moderne Kommunikationswege wie soziale Medien, um den tatsächlichen Gebrauch von Wörtern und Konzepten besser zu verstehen. Gerade bei Sprachen ohne umfangreichen schriftlichen Nachlass ist dies eine große Herausforderung, aber auch eine Chance, die Dynamik lebendiger Sprachwelten zu dokumentieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Neuaufstellung der Debatte um die lexikalische Vielfalt in Sprachen unsere Wertschätzung für die kulturelle und ökologische Verbindung von Sprache und Lebenswelt erweitert. Die alten Polemiken um die vermeintliche „Vielzahl von Wörtern für Schnee“ bei den Inuit weichen heutigen differenzierten Computermodellen, die solche Phänomene als Teile eines globalen Musters identifizieren. Sprache ist damit ein faszinierendes Fenster in die Denk- und Lebenswelten der Menschheit, das immer neue Entdeckungen bereithält. Sie zeigt uns, wie stark unser kulturelles Umfeld und unsere Umwelt unser Vokabular prägen – und über die Sprache gelangen wir zu einem besseren Verständnis der Vielfalt menschlicher Erfahrung.