Seit der Einführung der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) im Jahr 1999 basierte die Bewertung digitaler Barrierefreiheit auf einem binären Modell: Ein Kriterium war entweder erfüllt oder nicht. Diese einfache Methode, die sich in den Versionen WCAG 2.0 und 2.1 untermauerte, brachte zwar Klarheit in die technische Umsetzung, scheiterte jedoch häufig daran, die tatsächliche Nutzererfahrung abzubilden. Diese Diskrepanz führt dazu, dass viele Websites oder Anwendungen formal konform erscheinen, aber für Menschen mit Behinderungen nicht wirklich zugänglich oder nutzbar sind.
Genau hier setzt die WCAG 3.0 an – mit einem völlig neuen Ansatz, der über bloße technische Compliance hinausgeht und echte Zugänglichkeit aus Sicht der Nutzer in den Fokus stellt. Das Fundament dieses Wandels ist ein flexibles, punktbasiertes Bewertungssystem, das Barrierefreiheit auf einer Skala misst und so Nuancen der Usability besser abbildet. Dieser Wandel markiert eine neue Ära, die Barrierefreiheit nicht als lästige Pflicht, sondern als Chance für Innovation und echte Nutzerzentrierung begreift. Die WCAG 3.
0 befindet sich aktuell noch im Entwurfsstadium, dennoch zeichnen sich klare Tendenzen ab, die das Verständnis und die Praxis der Barrierefreiheit nachhaltig verändern werden. Die WCAG 3.0 erweitert den bisherigen Anwendungsbereich deutlich und berücksichtigt neben klassischen Webseiten auch Anwendungen, verschiedene Geräte, sowie neue Interaktionsformen wie Sprachsteuerung oder erweiterte Realität. Damit stellt sie sicher, dass Barrierefreiheit nicht auf eine Nische beschränkt bleibt, sondern zum selbstverständlichen Standard in allen digitalen Bereichen wird. Die Strukturen der bisherigen Versionen mit den vier Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit (POUR) und den starren Konformitätsstufen A, AA oder AAA werden durch ein innovatives Modell aus Leitlinien, konkreten Nutzeraussagen und flexiblen Methoden ersetzt.
Diese Outcomes (Ergebnisse) sind nutzerzentrierte Aussagen darüber, was Nutzer mit Behinderung tatsächlich können oder erreichen sollten und nicht nur technische Eigenschaften. Das neue Bewertungssystem der WCAG 3.0 nutzt verschiedene Arten von Tests, die weit über das einfache Bestehen oder Scheitern hinausgehen. Neben klassischen binären Prüfpunkten werden quantifizierbare Abdeckungen (etwa der Prozentsatz korrekt benannter Formularfelder) ebenso wie qualitative Bewertungen (die Qualität alternativer Texte etwa) herangezogen. Jedes dieser Ergebnisse wird dann auf einer Skala von „schlecht“ bis „exzellent“ bewertet und in unterschiedlichen Dimensionen wie beispielsweise für Sehbehinderungen, Mobilität oder kognitive Einschränkungen aggregiert.
Dadurch erhalten Entwickler und Designer ein differenziertes Bild der Barrierefreiheit ihrer Produkte und können gezielter an konkreten Schwachstellen arbeiten. Diese differenzierte Bewertung signalisiert darüber hinaus Fortschritt und Entwicklung – eine „gute“ Bewertung ist nicht das Ende der Fahnenstange, sondern der Ansporn für ständige Verbesserungen. Kritische Fehler im neuen Modell bekommen dabei eine besondere Bedeutung. Während in bisherigen WCAG-Versionen bereits eine nicht erfüllte Anforderung zu einem Scheitern geführt hat, können nun kleinere Probleme die Bewertung zwar mindern, aber nicht komplett zunichtemachen. Doch wenn ein Kernprozess, beispielsweise eine Kaufabwicklung oder eine Anmeldung, durch eine Barriere komplett blockiert wird, spricht man von einem kritischen Fehler.
Diese Fehler können die Bewertung maßgeblich negativ beeinflussen und drängen Entwickler dazu, Prioritäten bei der Behebung der gravierendsten Hindernisse zu setzen. Diese Balance zwischen gradueller Bewertung und klarer Grenze bei kritischen Nutzungsbarrieren soll verhindern, dass zumindest wesentliche Funktionen für Menschen mit Behinderungen unzugänglich bleiben. Eine weitere grundlegende Neuerung ist der Verzicht auf die starren Konformitätslevel A, AA und AAA, die teilweise als zu vereinfacht kritisiert wurden. Stattdessen schlägt WCAG 3.0 drei neue Stufen vor: Bronze, Silber und Gold.
Diese orientieren sich am Erfüllungsgrad der unterschiedlichen Nutzerergebnisse und reichen vom grundlegenden Mindeststandard bis hin zu exzellenter Barrierefreiheit, die inklusive Designprozesse und intensive Nutzerbeteiligung voraussetzt. Durch diese Abstufung wird der Weg zu besserer Zugänglichkeit klarer und motivierender gestaltet. Zudem erlaubt das Modell eine fokussierte Zertifizierung, also etwa für einzelne Anwendungsteile oder Plattformen. Das unterstützt iterative Verbesserungen und macht Barrierefreiheit zu einem kontinuierlichen Prozess. Die Umstellung auf das neue Modell bringt allerdings auch Herausforderungen mit sich.
Die subjektiven Bewertungen können von verschiedenen Prüfern unterschiedlich ausgelegt werden. Ohne einheitliche Kalibrierungen könnte dies die Vergleichbarkeit erschweren, insbesondere bei Ausschreibungen oder rechtlichen Prüfungen. Zudem löst die Abschwächung der klaren Grenze zwischen „konform“ und „nicht konform“ Unsicherheiten. Was bedeutet eine „gute“ Bewertung in der Praxis und reicht sie für rechtliche Anforderungen aus? Derzeit beziehen sich viele gesetzliche Regelungen noch auf die WCAG 2.x und ihre einstufigen Konformitätslevels.
Dies zwingt Organisationen dazu, weiterhin mehrere Standards parallel zu bedienen, was Aufwand und Komplexität erhöht. Ein scheinbar paradoxes Risiko besteht darin, dass durch das flexible Punktesystem die Gefahr entsteht, dass „ausreichender“ Zugang nicht mehr hinterfragt wird. Ein Produkt, das das Bronze-Level erreicht, könnte als „gut genug“ angesehen und als fertig betrachtet werden – obwohl noch wichtige Barrieren bestehen. Gerade in zeitkritischen Projekten wächst so das Risiko, dass optimierbare Bereiche ungenügend adressiert werden. Barrierefreiheit darf aber nie „minimal“ oder „abgehakt“ sein, sondern muss immer weiterentwickelt und an den Bedürfnissen aller Nutzer ausgerichtet bleiben.
Trotz aller Risiken ist die WCAG 3.0 ein großer Schritt hin zu einem realistischerem und umfassenderem Verständnis von Zugänglichkeit. Sie gibt der Vielfalt der Nutzer mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Nutzungsszenarien ein angemessenes Gewicht. Mit dem Fokus auf das tatsächliche Erreichen von Aufgaben und Funktionen für Menschen mit Behinderungen wird Barrierefreiheit zu einem lebendigen Prozess, der Innovationen fördert und auch neue technische Interfaces berücksichtigt. Teams in den Bereichen Design, Entwicklung und Produktmanagement sollten sich jetzt mit der WCAG 3.
0 vertraut machen, um zukunftsfähige Barrierefreiheitsstrategien zu entwickeln. Dabei bleibt WCAG 2.2 weiterhin die vorherrschende Norm, bis die neue Version finalisiert und breit anerkannt ist. Bereits heute ist es ratsam, sich an den neuen Perspektiven zu orientieren: den Nutzer in den Mittelpunkt stellen, Zugänglichkeit in alle Prozesse einbinden, und kontinuierlich mit betroffenen Anwendern zusammenarbeiten. Barrierefreiheit ist mehr als ein technischer Standard oder eine gesetzliche Anforderung.
Sie ist ein Ausdruck von Respekt und Teilhabe. Die Umstellung auf WCAG 3.0 bestärkt diesen Gedanken, indem sie nicht allein Checklisten abfragt, sondern den Blick auf die realen Erfahrungen und Bedürfnisse öffnet. Nur so können digitale Produkte wirklich inklusiv, nachhaltig und erfolgreich gestaltet werden. Die neue Bewertung und die neuen Conformance-Levels helfen dabei, schrittweise auf echte Barrierefreiheit hinzuarbeiten und zugleich ambitionierte Ziele anzupeilen.
So entsteht eine digitale Welt, in der alle Menschen gleichermaßen Zugang und Nutzungsmöglichkeiten vorfinden – das eigentliche Ziel barrierefreier Gestaltung.