Der Ozean bedeckt mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche und ist Heimat für unzählige Lebewesen sowie Lebensgrundlage für Milliarden von Menschen weltweit. Dennoch bleibt das Meer für viele Menschen – besonders in industrialisierten Gesellschaften – ein ferner, abstrakter Ort. Die Wasserfläche wirkt oft unendlich, ungreifbar und unwirtlich. Gerade für diejenigen, die fernab von Küsten leben, werden die Ozeane mehr als eine ferne Kulisse wahrgenommen denn als tatsächlicher Lebensraum, der Schutz verdient und Pflege braucht. Die Herausforderung der heutigen Zeit liegt darin, inmitten megatrendiger Umweltprobleme wie Klimawandel, Meeresverschmutzung und Artenverlust eine echte „Sense of Place“, einen Ortssinn, für den Ozean zu entwickeln.
Nur durch eine stärkere emotionale und kulturelle Verbindung zu den Meeren können Gesellschaften ein nachhaltiges Verhältnis zu den Ozeanen aufbauen – und so deren Schutz fördern. Ein oft unbekanntes Ökosystem, das diesen Wandel beispielhaft illustriert, sind Kelpwälder. Diese dichten Unterwasserwälder aus großen Seealgen wachsen in küstennahen Gewässern, etwa vor Australien, Nordamerika oder Südafrika. Für den Meeresökologen Aaron Eger aus Sydney sind sie ein magischer Lebensraum. Unter der Wasseroberfläche verbirgt sich hier ein komplexes Geflecht von Lebensformen, vom Mikrolebewesen bis zu Fischen, Seeottern und Seevögeln.
Für viele Landbewohner ist diese Welt jedoch unsichtbar. Dabei sind Kelpwälder nicht nur ökologisch bedeutsam, weil sie Brutstätten und Nahrungslieferanten sind, sondern sie speichern auch große Mengen Kohlenstoff und tragen so zum Klimaschutz bei. Die Tatsache, dass solche essentiellen Lebensräume kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent sind, macht deutlich, wie weit die emotionale Trennung vieler Menschen vom Meer geht. Die westliche Kultur hat dem Ozean historisch häufig mit Furcht und Distanz begegnet. Er wird oft als gefährlich, unheimlich oder gar „fremd“ wahrgenommen – ein dunkler, tiefgründiger Abgrund, dessen Geheimnisse den meisten Menschen verborgen bleiben.
Dieses Bild steht konträr zur empirischen Realität, denn neue wissenschaftliche Erkenntnisse und moderne Technologien zeigen, dass die Meere erstaunlich vielfältig und komplex sind. Doch trotz großer Fortschritte in der Marineforschung bleibt es vielen schwer zugänglich, eine innige Verbindung zum Meer zu entwickeln. Dabei ist eine solche Beziehung entscheidend für den Schutz mariner Lebensräume und für nachhaltige politische Entscheidungen. Eine Schlüsselidee hierbei ist das Konzept des „Ortes“ oder „Place“ in der Meeresforschung. Auf dem Land ist die Beziehung zu Landschaften, Wäldern oder Flüssen tief verwurzelt – kulturell, emotional, historisch und spirituell.
Diese Verbundenheit schafft Verantwortungsbewusstsein, wenn es um Naturschutz geht. Im Meer ist diese Vorstellung jedoch deutlich weniger ausgeprägt. Die Schwierigkeit, Grenzen zu ziehen oder geografische Regionen klar zu definieren, erschwert die Identifikation mit Meeresräumen. Meeresökologie und Küstenmanagement suchen daher zunehmend nach Wegen, wie sie „Ortlichkeit“ im Ozean besser verstehen und vermitteln können. Marine Lebensräume sind in ihrer Verschieblichkeit und Tiefe unvergleichbar mit irdischen Ökosystemen.
Strömungen, Wellen und saisonale Veränderungen erzeugen eine Dynamik, die Gemeinschaften und Forscher gleichermaßen herausfordert. Dennoch gibt es Beispiele, die zeigen, wie Menschen im Laufe von Jahrhunderten tiefe Bindungen zu bestimmten Meeresregionen entwickelt haben – besonders indigene Kulturen, die traditionelles Meereswissen bewahren. Die hawaiianische Ahupua’a-Struktur etwa verbindet Gebirge, Flüsse und das Meer als ein zusammenhängendes System, das auch kulturelle und spirituelle Bedeutung trägt. Solche Ansätze zeigen, dass eine „Sense of Place“ im Ozean ein ganzheitliches Verständnis von Landschaft und Lebensraum miteinschließt. Für den Schutz der Meere ist dabei nicht nur das Wissen um Ökologie und Biologie wichtig, sondern auch das Erzählen von Geschichten und das Vermitteln kultureller Bedeutungen.
Die Kelp Forest Alliance widmet sich genau dieser Herausforderung: Sie verknüpft wissenschaftliche Erforschung mit kultureller Aufarbeitung und künstlerischem Ausdruck. Filme, Musik und Erzählungen bauen Brücken zwischen Menschen und den verborgenen Ozeanwelten. Dadurch wird aus einem abstrakten Thema eine greifbare und emotional erfahrbare Realität. Menschen beginnen, die Meere nicht nur als Ressource zu sehen, sondern als lebendigen Ort, in dem sie eine Rolle spielen. Ein Beispiel für die Komplexität und Schönheit solcher Meeresorte ist das Northeast Canyons and Seamounts Marine National Monument vor der Küste von Cape Cod in den USA.
Dieses Schutzgebiet umfasst Riffe, Unterwasserberge und vielfältige Lebensräume, die bisher kaum von Menschen direkt besucht wurden. Die Herausforderungen, ein solches Gebiet zu schützen, sind enorm: Es ist physisch schwer zugänglich, bleibt fast unsichtbar für die breite Öffentlichkeit und wird von industriellen Interessen bedroht. Doch der Schutz wurde durch ein breites Bündnis aus Wissenschaft, Politik, Naturschutzgruppen und öffentlichen Unterstützern erreicht. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten und gemeinsame Bezugspunkte zum Meer zu schaffen, auch wenn es weit entfernt erscheint. Der Wert und die Bedeutung von „Place“ im Ozean haben eine zentrale Auswirkung auf die Bildung einer zeitgemäßen und wirksamen Meeresethik.
So wie der Umweltschützer Aldo Leopold in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Landethos formulierte – die Menschheit soll als Teil eines verbundenen Ökosystems denken und handeln –, rückt jetzt das Meer als integraler Teil dieser Verantwortung in den Fokus. Es geht darum, eine Beziehung zum Ozean zu entwickeln, die emotional, kulturell und spirituell verankert ist und die vielfältigen Netzwerke von Leben und Menschsein anerkennt. Technologien wie Unterwasserdronen, Satellitenbilder und 3D-Kartierungen tragen dazu bei, den Ozean besser zu verstehen, doch technische Daten allein schaffen noch keine tiefere Verbindung. Es braucht das Bewusstsein darüber, wie Menschen das Meer als Ort für sich entdecken und erleben können.
Das Verständnis von Platz und Raum muss erweitert werden, um soziale, kulturelle und historische Dimensionen einzubeziehen. Nur so kann mariner Naturschutz in der Praxis auch Akzeptanz und Unterstützung finden. Darüber hinaus spielt die Integration von indigenem Wissen eine große Rolle. Viele indigene Gemeinschaften pflegen seit Generationen nachhaltige Beziehungen zum Meer – sie kennen Wanderwege von Walen, Jahreszeitenzyklen im Wasser und den Lebensraum zahlreicher Arten. Dieses Wissen, ergänzt durch moderne Wissenschaft, eröffnet neue Wege, Meeresmanagement ganzheitlicher und kulturübergreifend zu gestalten.
In Hawaii etwa wird die Pflege von Meeresschutzgebieten gemeinsam mit den lokalen Gemeinden und kulturellen Traditionen betrieben, was den Schutz deutlich wirksamer und tiefer verankert macht. Eine tiefere Verbundenheit mit dem Meer hat auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Wenn Meere als bedeutungsvolle Orte wahrgenommen werden, steigt die Bereitschaft der Gemeinschaft, für ihren Schutz einzutreten. In einer Zeit, in der Meeresressourcen durch Überfischung, Klimawandel und Verschmutzung massiv bedroht sind, ist diese emotionale Bindung essenziell. Nur wenn Menschen die Meere nicht mehr als anonymen Raum sehen, sondern als Heimat und Lebensgrundlage, entsteht ein stärkerer gesellschaftlicher Wille zu Schutzmaßnahmen und nachhaltigem Umgang.
Ein grundlegender Wandel in der Wahrnehmung des Ozeans kann auf mehreren Ebenen umgesetzt werden. Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle: Kinder und Erwachsene sollten die Meere nicht nur als ferne blaue Fläche lernen, sondern mit spannenden Geschichten, Naturerfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden erleben. Medien, Kultur und Freizeitgestaltung können ebenfalls Brücken bauen, indem sie die Vielfalt und Schönheit des Meeres erlebbar machen. Gleichzeitig sind Politik und Verwaltung gefordert, bei Raumplanung und Naturschutz Maßnahmen zu ergreifen, die nicht nur effektiv, sondern auch sozial gerecht sind und die lokale Bevölkerung einbeziehen. Die Verankerung eines „Sense of Place“ für den Ozean ist somit mehr als ein akademisches Konzept.
Es ist ein Schlüssel für den Schutz eines der größten und wichtigsten Lebensräume unseres Planeten. Indem wir den Ozean als lebendigen Raum begreifen, in dem sich Menschen, Tiere und Umwelt verbinden, schaffen wir eine Grundlage für nachhaltiges Handeln. Vor allem in einer Welt, die vom Klimawandel und Verlust der Biodiversität bedroht ist, ist diese neue Beziehung zum Meer eine dringende Notwendigkeit. Den Ozean neu als Heimat zu entdecken, heißt, ihn nicht länger als fremde und unnahbare Welt zu betrachten, sondern als Ort, an dem wir – kulturell, emotional und ökologisch – verwurzelt sind. Dieser Prozess eröffnet Chancen für mehr Respekt, Fürsorge und gemeinsames Engagement.
Mehr als nur Wasserfläche ist der Ozean ein Raum voller Leben, Geschichten und Bedeutung – ein Platz, den es zu schützen und zu bewahren gilt.