Die moderne Stadt ist ein komplexes Geflecht aus Menschen, Gebäuden, Infrastruktur und Technologie. Während die Digitalisierung viele Bereiche unseres Lebens durchdrungen hat, bleiben öffentliche Räume oft von isolierter digitaler Nutzung geprägt. Der Begriff „Computational Public Space“ beschreibt eine innovative Vision, wie Computertechnologien in öffentlichen und gemeinschaftlichen Räumen integriert werden können, um soziale Interaktion, Lernen und lokalen kulturellen Ausdruck zu fördern – ganz ohne die üblichen Bildschirme. Bret Victor und das Team von Dynamicland haben in den USA eine wegweisende Initiative gestartet, die genau diese Vision verfolgt: eine Form der Computernutzung, die körperliche Präsenz, gemeinschaftliches Arbeiten und physische Materialien in den Mittelpunkt stellt. Dabei geht es nicht nur um Technik, sondern vor allem um Werte, die auch unsere Städte prägen sollten.
Die meisten Menschen verbinden Computernutzung heute mit kleinen Bildschirmen, Smartphones und Laptops. Diese Geräte isolieren oft die Nutzer und schaffen virtuelle Räume, die von großen Konzernen gestaltet und kontrolliert werden. Einen Raum zu betreten könnte bedeuten, dass jeder Mensch für sich allein in seinem Bildschirmallerlei versinkt, auch wenn sie sich physisch sehr nahe befinden. Doch wie würde eine Computernutzung aussehen, die genau das Gegenteil bewirkt? Die Menschen zusammenbringt, ihnen die Möglichkeit gibt, gemeinsam an Projekten zu arbeiten, zu lernen und ihre Umgebung aktiv mitzugestalten? Dynamicland hat eine bemerkenswerte Antwort auf diese Frage entwickelt. Der Ansatz beruht auf einer Form des „communal computing“, also gemeinschaftlichem Rechnen, in dem Computernutzung nicht auf individuelle, geschlossene Bildschirme beschränkt ist.
Stattdessen wird das Rechnen in den physischen Raum ausgeweitet. Menschen arbeiten zusammen um Tische, greifen gemeinsam mit den Händen auf physische Materialien zu und nutzen diese als reale, greifbare „Programm-Elemente“. Das Betriebssystem selbst ist aus physischen Objekten und Karten aufgebaut, die man anfassen, umordnen und verändern kann. Dadurch verändert sich nicht nur die Art, wie Menschen miteinander interagieren, sondern auch, wie Computerprogramme wahrgenommen und gestaltet werden. Der Code ist dabei keine abstrakte, verborgene Instanz im Inneren eines Geräts, sondern sichtbar und durch soziale Praxis formbar – genauso wie die Regeln eines Brettspiels, das man gemeinsam anpasst.
Neben der Gemeinschaftlichkeit spielen in Dynamicland die Prinzipien von Lokalität und handwerklicher Autonomie eine große Rolle. Anders als die global einheitlichen Apps und Plattformen, die wir von Konzernen wie Google, Facebook oder Instagram kennen, strebt Dynamicland nach einem lokal entworfenen, kommunalen Computernetzwerk, das von der jeweiligen Gemeinschaft selbst gelernt und weiterentwickelt wird. Die Idee ist, dass Computernutzung nicht als fertiges Produkt heruntergeladen wird, sondern als Praxis und Kultur, die vor Ort gewachsen ist. Es geht um eine Rückbesinnung auf lokale Werte, Fähigkeiten und Bedürfnisse in der digitalen Welt – ein Gegenmodell zur Monokultur der Massenprodukte. Mit diesem werteorientierten Ansatz eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Rolle von Computern in der gebauten Umwelt.
Öffentliche Räume könnten so nicht nur als physische Begegnungsorte dienen, sondern als lebendige, interaktive Plattformen für gemeinschaftliches Handeln und Diskurs. Durch die Integration von Computation in den Alltag der Stadt werden viele Spannungsfelder der heutigen Urbanität sichtbar und verhandelbar: Die Differenz zwischen Globalisierung und lokaler Identität, zwischen zentraler Planung und partizipativer Gestaltung, zwischen Isolation und Verbundenheit, zwischen dem öffentlichen und privaten Raum, zwischen Überwachung und Datenschutz sowie zwischen bloßer Konsumtion und bewusster Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Gerade die Debatte um Überwachung und Privatsphäre bekommt im Kontext von Computation im öffentlichen Raum besonders viel Gewicht. Der aktuelle Umgang mit digitalen Technologien ist durch eine massive Erfassung und Verwertung persönlicher Daten geprägt. Diese Praxis à la Big Data und Tracking wird im öffentlichen und privaten Raum gleichsam akzeptiert, birgt jedoch immense gesellschaftliche Risiken.
Dynamicland setzt hier einen radikalen Kontrapunkt: Datenschutz entsteht nicht durch Abschottung, sondern durch eine Form der Computernutzung, die möglichst wenig digitale Daten generiert und stattdessen auf die soziale Regulierbarkeit physischer Interaktionen vertraut. Wenn Interaktion an physischen Objekten in gemeinschaftlichen Räumen erfolgt, können private und öffentliche Handlungen viel leichter sozial gesteuert werden – etwa durch Normen, gegenseitige Rücksichtnahme und Verweigerung von Störungen – ohne dass persönliche Daten aufgezeichnet werden müssen. Darüber hinaus eröffnet die Integration von Computation in die gebaute Umwelt neue Möglichkeiten, komplexe, sonst verborgene Systeme der Stadt sichtbar und verständlich zu machen. Ob Verkehr, Versorgung, Umweltbelastung oder globale Lieferketten – vieles bleibt den Bewohnern oft ein Rätsel, obwohl es ihren Alltag und ihre Zukunft maßgeblich beeinflußt. Computergestützte Visualisierungen, die direkt im Stadtraum verankert sind, könnten Transparenz schaffen, Verständnis fördern und die Bürger in die Lage versetzen, informierte Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.
Solch eine „sichtbare Stadt“ wäre ein bedeutender Schritt hin zu mehr demokratischer Teilhabe und nachhaltiger Stadtentwicklung. Die praktische Umsetzung solcher Ideen ist komplex und noch in den Anfängen. Jedoch zeigen Beispiele aus Dynamicland, wie Wissenschaftler gemeinsam in einem physischen Raum protein-Programme verändern, Kinder spielerisch in Programmierung einsteigen oder Gemeinschaften Familiengeschichten auf völlig neue Weise visualisieren. Solche interaktiven Lern- und Arbeitsformen können direkt in öffentliche Räume übertragen werden, beispielsweise in Bibliotheken, Museen, Schulen oder städtische Plätze. Ein weiterer Aspekt ist die Demokratisierung der Softwareentwicklung.
Im Gegensatz zu proprietärer, zentral gesteuerter Software ermöglichen physische Programme und Werkzeuge in Gemeinschaftsräumen eine offene, partizipative Codegestaltung. Damit wird Technologie nicht mehr als vorbehaltener Besitz weniger Firmen wahrgenommen, sondern als commons, die der Gemeinschaft gehört und die gemeinsam gestaltet und verantwortet wird. Diese Offenheit passt ideal zu den Grundprinzipien von öffentlichem Raum und städtischer Governance und bietet eine Antwort auf die technologischen Herausforderungen von Mitbestimmung im digitalen Zeitalter. Die Vision eines „Computational Public Space“ ist nicht nur aus technologischer Perspektive spannend, sondern hat tiefgreifende gesellschaftliche Implikationen. Indem Computation wieder physisch, sozial und handlungsorientiert gemacht wird, werden Menschen ermutigt, aktiver zu partizipieren.
Das fördert sozialen Zusammenhalt, Wissensaustausch und kreative Zusammenarbeit in der Stadtgesellschaft. Gleichzeitig können Bedrohungen durch Überwachung, gesellschaftliche Spaltung und den Verlust lokaler Identität reduziert werden. In einer Welt, in der digitale Geräte zunehmend unseren Umgang mit Raum und Zeit bestimmen, setzt diese neue Form der Computing-Integration einen starken Impuls, um Städte nicht nur digitaler, sondern auch menschlicher, partizipativer und nachhaltiger zu machen. Die Herausforderung besteht darin, diese Vision aus Forschung und Pilotprojekten herauszuführen und in den Alltag von Menschen und Kommunen zu übersetzen. Öffentliche Träger, Stadtplaner, Technologiegestalter und die Bürger selbst sind aufgefordert, gemeinsam neue Formen der digitalen Inklusion und urbanen Innovation zu entwickeln.
Die Philosophie von Dynamicland und des Computational Public Space bietet dafür einen wertvollen Leitfaden: Computernutzung als etwas, das zusammenbringt, berührt, sichtbar und formbar bleibt; als Werkzeug, das nicht von wenigen vorgegeben, sondern von vielen mitgestaltet wird; als Teil eines lokal verankerten, sozialen und materiellen Alltags, der mehr bietet als konsumbasierte Beschäftigung – eine Einladung zur aktiven Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft in der Stadt.