Am äußersten westlichen Rand eines weitläufigen Anwesens steht ein sonderbar ungewöhnliches Tor auf einer Wiese – ein Tor, das schon lange verschlossen und sorgfältig vernagelt ist. Es ist aus Kiefernholz gefertigt und tiefschwarz lackiert, mit einem grünlichen Kupferbeschlag versehen, der einen leisen Hauch von Alter und Geheimnis trägt. Dieses Tor steht dort, scheinbar ohne Zweck und ohne ein zugehöriges Gebäude, was die Dorfbewohner gleichermaßen fasziniert und abschreckt. Man weiß nicht, wer es einst errichtet hat, und viele meiden es lieber. Dennoch ranken sich Legenden um seine eigentümlichen Eigenschaften: Wer hindurchgeht, erlebt je nach Jahreszeit einen Zeitsprung vom Sommer in den tiefsten Winter oder umgekehrt.
Nur im Frühling und Herbst bleibt die Zeit unverändert. Ein Portal, das den Zugang zu gleichzeitig zwei gegensätzlichen Jahreszeiten schafft, ist ein seltsames, aber nützliches Werkzeug, besonders wenn die Winter lang und trostlos sind oder die Sommerhitze die Menschen ermüdet. Die Geschichte hinter diesem Tor ist eng mit den Schicksalen einiger Figuren aus dem Dorf verbunden, allen voran Dain Morrow, der Sohn des alten Morrow, und Tim Fellweather, ein junger Mann eines alteingesessenen und angesehenen Clans. Dain Morrow war ein rebellischer, trickreicher Junge mit sommerfarbenem Haar und leuchtend blauen Augen. Seine Haltung war von Poesie geprägt, wenn man unter Poesie eine Veranlagung für Unfug und das Meiden echter Arbeit versteht.
Dain hatte eine besondere Beziehung zum Tor, das er nicht nur als gelegentliche Abwechslung, sondern geradezu exzessiv nutzte. Anstatt die Gunst des Tores sporadisch zu genießen – ein oder zwei Tage Sommer mitten im Winter oder umgekehrt – sprang er regelmäßig zwischen den Extremen hin und her und übersprang so die wichtigen Jahreszeiten des Frühlings und Herbstes, in denen Feldarbeit und Ernte zu leisten waren. Dieses Verhalten brachte ihm den Spott der Dorfbewohner ein und entfachte nicht selten Missgunst, denn während Dain sorglos zwischen Festtagen und warmer Sonne lebte, blieben die anderen auf ihre Arbeit und Tristen Momente zurück. Er zeigte sich auf den Festen voller Lebensfreude, mit glänzender Haut und einem begehrten Lebensstil, der das Bild eines sommerlichen Überfliegers abgab. Die Gedanken vieler erinnerten an die Fabel vom Grashüpfer und der Ameise – ein schalkhafter Lebenskünstler gegen die fleißigen, aber mühsamen Arbeiter.
Doch mit dieser Leichtigkeit kamen auch Streiche und Aufruhr. Dain verwandelte den Sommer in ein Schlachtfeld kleiner Streiche, sei es mit Seifensud-Späßen oder anderen Unfugserien, die den Sommer beinahe in einen Kreis der Hölle verwandelten. Der Spaß war für Dain jedoch kein bloßer Zeitvertreib, sondern Ausdruck seiner Haltung gegen alle Verpflichtungen und Lasten, die er umging. In seinem intensiven Umgang mit dem Tor und in der Missachtung gesellschaftlicher Normen brachte er sich schnell in Konflikt – insbesondere mit Tim Fellweather. Die Fellweathers waren eine ehrwürdige Familie mit einer langen Ahnenreihe, die sich durch Härte und einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und Arbeit auszeichnete.
Die Herren des Grundstücks und des Gerichts, ausgestattet mit ernster Miene, aussehen fast wie aus einem alten Holzschnitt entsprungen und voll von stolzer Tradition. Melchizedeck Fellweather, der Vorfahre und Namenspatron, war ein berüchtigter Hexenjäger, Richter und Sammler von Gut und Geld, der die Unterdrückung von angeblichen „Hexen“ und ihrer „Sünden“ mit Härte vorantrieb und als Folge selbst wohlhabend wurde. Tim, ein starker, pflichtbewusster junger Mann, war mit der Pflege seines schwarzen Hengstes Coaldust vertraut, einem Pferd, das wegen seiner Geburtsgeschichte auch diesen Namen erhielt – benannt nach der schwarzen Asche und den starken Temperamenten, aus denen es stammte. Coaldust war das Sinnbild für Stärke und Treue, beherrscht nur von Tim und nicht etwa von Fremden. Im Gegensatz dazu symbolisierte das weiße Flattern eines Tuches an seinem Weg die Angst und den Schrecken, der Coaldust antrieb – eine Abscheu vor hellem Weiß, das wie ein ultimativer Feind wirkte.
Der Konflikt zwischen Dain Morrow und Tim Fellweather entlud sich am Rande des Dorfes und in der Dämmerung vor Weihnachten, als Dain, frisch aus dem Sommer kommend, den Biergarten betrat, voller Spott und unangemessenem Jubel. Tim, der jeden Tag hart arbeitete, konnte diesen Anlass nicht unbeantwortet lassen. Die verbalen Attacken tauschten sich aus, gipfelten aber in einem Streit, der mit der Zerstörung Coaldusts endete. Das Tier, mit seinem zertrümmerten Vorderbein, war nicht mehr zu retten. Tim, von Schmerz und Rachsucht getrieben, führte das letzte Gnadenschwert gegen sein geliebtes Pferd und brachte es schnell zu Fall, während sich alle um ihn versammelten, schweigend und voller gemischter Gefühle.
In der Folge eskalierte die Fehde, belastete die Gemeinschaft und führte zur Eröffnung eines offiziellen Verfahrens, das die Verantwortung von Dain klären sollte. Tim reichte eine Klage wegen des Todes seines Pferdes ein – einer Kostbarkeit, die sogar den Wert von Dains Erbe bei weitem überstieg. Die örtlichen Wachen und Freunde suchten nach Gerechtigkeit mit eigenen Mitteln, wollten Dain stellen und bestrafen – doch der scheue Junge war verschwunden. Man vermutete ihn in der fernen großen Stadt RavenHölme, wo man ihn zu reifen und Weisheit zu erlangen hoffte. Jahre vergingen, das bedeutende Tor wurde immer seltener genutzt.
Es war im Wesentlichen Dains Privatsache geworden, bis eines besonders heißen Tages der alte Mickle Ochrepalm, ein erfahrener Kriegsveteran, dessen Körper vom Leben gezeichnet war, beschloss, das Tor zu betreten. Ausgerüstet mit den nötigen Utensilien für Expeditionen in den Winter – Ein Gewehr, warme Kleidung und ein Zelt – wagte er sich hinein, sich durch den Wechsel der Jahreszeit führend. Dabei wurde ihm schnell klar, dass niemand das Tor leichtfertig benutzen sollte. Schon vor dem Tor waren Spuren der Verwüstung zu erkennen, niedergedrückte Gräser, zertrampelte Rosenbüsche, ölartige Flecken auf der Erde. Es war, als hätte das Gleichgewicht zwischen Sommer und Winter eine schwerwiegende Verletzung erlitten.
Binnen weniger Meter fand er Dain Morrow, dessen Leben ausgelöscht war. Die Spuren von Gewalt wurden unmissverständlich – eine tiefe Wunde im Herzen des jungen Mannes, eingefasst von einem zerbrochenen Wildrosenstrauch, der noch ein wenig Frost trug. Es war Sommerrosenblut, das die Unversehrtheit der Jahreszeiten symbolisieren sollte und zugleich eine finstere Andeutung eines Mordes. Mickle eilte zurück, um einen Suchtrupp zu organisieren, der die Leiche aus dem Winter zurück ins Dorf brachte. Die darauf folgende Untersuchung wirkte mehr wie ein leises Flüstern als ein lautes Gericht, denn der Beweis blieb diffus.
Tim Fellweathers stolzer Stolz, sein Elfenbein-Aul, wurde untersucht, doch das fehlende Teil der Waffe ließ zu viele Fragen offen. Bald verschwanden die offiziellen Untersuchungen und mit ihnen die Hoffnung auf Rechtsprechung. Die Spannungen bei den Dorfbewohnern blieben, doch alteingesessene Männer wie Mickle bewahrten die Ruhe, verhinderten blinde Gewaltakte und sorgten für Ordnung. Das Tor wurde endgültig verschlossen, vernagelt und unbegehbar gemacht, seine Bedeutung für das Dorf durch die Ereignisse erschüttert. Der Herr des Anwesens ließ es versiegeln, die Felder ringsum streng bewachen und die Zivilisation zurückziehen aus dem Grenzbereich zwischen den Jahreszeiten.
Diese Geschichte ist mehr als nur ein Märchen von wechselnden Monaten und magischen Portalen. Sie offenbart die Tiefen menschlicher Natur, die Zerbrechlichkeit gesellschaftlicher Bindungen und die Kontinuität von Konflikten, die sich in kleinen Gemeinschaften ebenso abspielen wie in der großen Welt. Der symbolhafte Kampf zwischen den zahlen- und zeitreichen Wechseln der Jahreszeiten spiegelt die inneren Kämpfe zwischen Pflicht und Vergnügen, Verantwortung und Freiheit wider. Das Tor zum Sommer bleibt ein Sinnbild für die Sehnsucht nach zeitlicher Kontrolle und den Versuch, den eigenen Lebensweg durch sprunghafte Flucht aus zeitlichen Zwängen zu gestalten. Es erinnert uns daran, dass das Überspringen von Etappen und der Verzicht auf die Reifephasen des Lebens schwerwiegende Konsequenzen haben kann – seien sie sichtbarer Art wie das Zerbrechen eines geliebten Pferdes, oder unsichtbar und unvermeidlich wie die Gewissheit des Todes.
Diese Erzählung, reich an Symbolik, historischen Spuren und emotionaler Tiefe, lädt den Leser ein, über den Wert jeder einzelnen Jahreszeit, über die Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und über die Kunst der Balance zwischen Freiheit und Pflicht nachzudenken. Das Tor zum Sommer steht nicht mehr offen, doch seine Geschichte lebt in der Erinnerung und den Erzählungen derer weiter, die die Grenzen von Zeit und Jahreszeiten zwischen Mythen und Realität ausloten.