Ostgalizien, eine historisch vielschichtige Grenzregion in Osteuropa, war vor dem Zweiten Weltkrieg Heimat einer multiethnischen Bevölkerung mit Ukrainern, Polen und einer bedeutenden jüdischen Minderheit. Diese Landschaft des Zusammenlebens wurde in den Jahren 1939 bis 1945 zum Schauplatz einer beispiellosen und sich überschneidenden Gewaltgeschichte. Die Region durchlitt mehrere Phasen von Unterdrückung und Massengewalt, angefangen bei sowjetischen Repressionen, über den Holocaust bis hin zu ethnischen Säuberungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polen, Ukrainern und sowjetischen Kräften. Die Zivilbevölkerung war dabei keine passive Beobachterin, sondern wurde unweigerlich in das Geschehen eingebunden – oft als unfreiwillige Zeugen, bloße Zuschauer oder gar Täter. Die Folgen dieser Erfahrungen sind mehrdimensional und hinterlassen individuelle sowie kollektive Traumata, die in der Geschichte und Gesellschaft Ostgaliziens tief verwurzelt sind.
Das Verständnis der traumatischen Erlebnisse der Menschen vor Ort erfordert einen sensiblen Blick auf die Rolle der sogenannten „bystanders“ – derjenigen, die nicht primär Opfer oder Täter sind, sondern durch ihre Nähe und Beobachtung ebenfalls betroffen sind. In Ostgalizien waren „Bystanders“ keine neutralen Beobachter im Sinne eines Außenstehenden. Ihre Stellung war vielmehr ambivalent und dynamisch, sie schwankten zwischen Täter, Opfer und Zeuge. Die enge geographische und soziale Verwobenheit der Gemeinschaften ließ keine Rückzugsmöglichkeit zu, stattdessen waren die Menschen ständig von Gewalt umgeben und wurden in sie hineingezogen, ob freiwillig oder unfreiwillig. Die sowjetische Besatzung ab 1939 führte zu massiven Deportationen vor allem der polnischen Bevölkerung, darunter Landesbesitzer und Intellektuelle, und sorgte für Angst, Unsicherheit und den Zerfall alter sozialer Strukturen.
Zeitgleich begannen während der deutschen Besatzung die systematischen Morde an der jüdischen Bevölkerung. Die Holocaust-Operationen in Ostgalizien, vor allem der Einsatzgruppenmorde, wurden oft von lokalen ukrainischen Kollaborateuren unterstützt, während die polnischen sowie ukrainischen Zivilisten die Gräueltaten meist unmittelbar mit ansehen mussten. Häufig wurden die jüdischen Nachbarn unmittelbar vor den Augen der anderen ethnischen Gruppen ermordet – ausnahmslos eine traumatische Erfahrung für die Anwesenden, die das soziale Gefüge nachhaltig zerstörte. Unmittelbar parallel zu den mörderischen Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung kam es in Ostgalizien zu brutalen ethnischen Säuberungen, bei denen ukrainische Nationalisten systematisch die polnische Bevölkerung vertrieben oder ermordeten. Die Opferzahlen dieser Konflikte steigen auf Zehntausende, wobei sich Gegengewalt zwischen Polen und Ukrainern in einem Teufelskreis der Gewalt fortsetzte.
Diese ethnische Säuberung führte zum Zerfall jahrhundertealter Gemeinschaften und verstärkte die traumatischen Nachwirkungen. Auch nach Kriegsende wurde die Region nicht zur Ruhe gebracht. Die Rückkehr der sowjetischen Truppen läutete neue Repressionswellen gegen ukrainische Partisanen und Zivilbevölkerung ein, die sich teils in gewaltsamen Auseinandersetzungen manifestierten und die Angst und das Trauma vertieften. Die unmittelbare Konfrontation mit Gewalt, Vertreibung und Tod bei den Bewohnern Ostgaliziens entwickelte eine vielschichtige Traumatisierung, die über individuelle psychologische Belastungen hinausging. Die traditionellen Kategorien von Täter und Opfer sind dabei unzureichend, um die volle Tiefe der Beteiligung und Verstrickung zu erfassen.
Vielmehr sprechen moderne Konzepte wie das des „implizierten Subjekts“ davon, dass viele Bewohner zwar keine direkten Täter waren, aber durch ihre soziale Position und Nähe zur Gewalt mitverantwortlich waren oder begünstigt davon profitierten – dennoch nicht frei von Schmerz und Schuldgefühlen. Das unmittelbare Erleben von Terror und Tod, das Zeuge sein von Deportationen, Erschießungen, Plünderungen und massenhafter Vernichtung zehrte intensiv an der seelischen Gesundheit. Kinder wie Erwachsene berichteten von anhaltenden Albträumen, Angstzuständen, psychosomatischen Beschwerden und einem tiefsitzenden Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung. Die Gewalt wurde weder rationalisiert noch distanziert betrachtet, sondern als bedrückende Realität empfunden, die ihr psychosoziales Leben erschütterte. Parallel zu diesen individuellen Leiden entstand ein kollektives Trauma.
Das Gemeinschaftsgefüge löste sich durch den Verlust von Angehörigen, Nachbarn, Freunden und wichtigen gesellschaftlichen Rollen auf. Bauernfamilien, die seit Generationen zusammenlebten, sahen Mitglieder ihrer Gemeinschaft ermordet, vertrieben oder zwangsdeportiert. Der Verlust von Ärzten, Lehrern, Händlern und anderen wichtigen Funktionsträgern führte zum Zusammenbruch lokaler Infrastruktur und damit zu einer tiefgreifenden sozialen Entwurzelung. Das Vertrauen unter den Nachbarn schwand, die Angst vor gegenseitiger Denunziation oder Gewalt belastete alle Beziehungen und ließ ein Gefühl der Isolation entstehen. Gefühle von Desintegration und moralischem Zerfall bestimmten das gesellschaftliche Klima.
Die Grenzen zwischen Freund und Feind, Nachbar und Verräter waren oft fließend. Die Zunahme von Gewaltbereitschaft und Mitwirkung selbst bei Jugendlichen zeigt, wie sehr die soziale und moralische Ordnung zusammenbrach. Eine Normalisierung und Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt entwickelte sich, da das ständige Erleben von Brutalität und Mord das soziale Empfinden abstumpfte. So spielten Kinder nicht mehr harmlose Gesellschaftsspiele, sondern trieben sich gegenseitig zu grausamen Nachstellungen von Ermordungen und Fluchtspielen an – eine traurige Reflexion auf das erlebte Umfeld. Nach Kriegsende wurde die Möglichkeit zur offenen Verarbeitung dieser traumatischen Erfahrungen stark eingeschränkt.
Sowohl die sowjetischen als auch die polnischen kommunistischen Regime etablierten eine offizielle Geschichtsschreibung, die bestimmte Opfergruppen ausblendete oder Themen wie die ethnischen Konflikte und die Rolle der Partisanen tabuisierten. Die überlebenden Gemeinschaften mussten mit dem belastenden Wissen, dass sich Täter unter ihnen befanden, schweigen. Diese erzwungene Stille bewirkte, dass der Schmerz wenig Raum für Ausdruck fand, was wiederum die Verarbeitung und Heilung erschwerte und oft zur inneren Verdrängung, Vereinsamung und anhaltenden Traumatisierung führte. Die physischen Spuren der Gewalt – Massengräber, zerstörte Häuser und geografische Verteilung von Orten verborgener Toten – blieben im Landschaftsbild verankert. Der Umgang mit diesen Stätten war schwieriger als der Umgang mit menschlicher Erinnerung, da viele Gräber unmarkiert blieben oder zerstört wurden.
In der Folge lebten viele Bewohner buchstäblich auf den Überresten ihrer ermordeten Nachbarn, was eine tiefgreifende psychische Belastung bedeutete und als „Leben mit den Toten“ bezeichnet werden kann. Trotz der harten politischen und sozialen Rahmenbedingungen entstanden im Verborgenen Netzwerke der Erinnerung und des stillen Austauschs über Erlebtes. In kleineren Personenkreisen wurde gesprochen, geteilt und erinnert, während die öffentliche Diskussion ausblieb. Die intergenerationelle Weitergabe von Leidens- und Überlebensgeschichten bewahrt auch heute noch das Bewusstsein über diese Gewaltzeit und ist Teil der kollektiven Identität der Region. Die Erforschung des Traumas in Ostgalizien nimmt mit modernen Ansätzen eine differenzierte Sichtweise ein, welche die Komplexität menschlicher Beteiligung und die Verwobenheit von Gewalt begreift.
Denn nicht die Opfer oder Täter allein tragen die Geschichte dieser Gewalt, sondern sämtliche Zeugen, Betroffenen und Nachkommen, die durch ihre Stellung in den Gewaltprozessen teils unfreiwillig verflochten sind. „Verflochtene Zeugen“ – so lässt sich ihr Schicksal treffend umschreiben. Dieser vielschichtige Traumaansatz verbindet die individuellen psychischen Belastungen mit kollektiven Verwundungen des sozialen Gefüges und dem langanhaltenden Schweigen als einer weiteren Belastungsebene. Die Region Ostgalizien zeigt exemplarisch, wie sich Kriegsgewalt nicht nur in den direkten Opfern niederschlägt, sondern auch in der langfristigen Zerstörung sozialer Strukturen, dem Verlust ethischer Grundlagen und einem generationsübergreifenden Bewusstsein der Verwundbarkeit. Solche Einsichten sind elementar, um die heutige gesellschaftliche Situation in Ostgalizien besser zu verstehen, wo die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und seine massiven Gewaltexzesse weiterhin die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen beeinflusst.
Sie geben auch Hinweise auf die Herausforderungen, denen sich postkonfliktuelle Gesellschaften gegenübersehen, wenn es um Versöhnung, Erinnerungskultur und die Wiederherstellung sozialer Kohäsion geht. Die Anerkennung der „verflochtenen Zeugen“ als Betroffene des Traumas erweitert das Verständnis von Gewaltgeschichte und Trauma. Sie zeigt, dass Konflikte wie in Ostgalizien nicht nur historische Kapitel sind, sondern lebendige Realitäten mit tiefreichenden Folgen für Identität, Gemeinschaft und Menschlichkeit darstellen. Ein offener Umgang mit diesen Traumata, zusammen mit politischer und gesellschaftlicher Aufarbeitung, ist notwendig, um Heilung zu ermöglichen und zukünftige Gewalt zu verhindern.