Mathematik gilt weltweit als eine der zentralen Schlüsselkompetenzen für Bildung und Karrierechancen. Dennoch zeigen zahlreiche Untersuchungen seit Jahrzehnten, dass Jungen im Durchschnitt bessere Leistungen in Mathematik erzielen und häufiger technische oder naturwissenschaftliche Berufe wählen. Dieses Phänomen, oft als „mathematisches Geschlechtergefälle“ bezeichnet, wirft wichtige Fragen auf – vor allem, wann genau dieses Gefälle entsteht und welche Faktoren es beeinflussen. Eine jüngst veröffentlichte, gigantische Studie aus Frankreich mit nahezu drei Millionen Kindern gibt nun erstmals sehr genaue Antworten und zeigt, dass Mädchen bereits ab dem ersten Schuljahr hinter Jungen zurückfallen. Diese Erkenntnis hat das Potenzial, bildungspolitische Maßnahmen gezielter zu gestalten und langfristig für mehr Gleichberechtigung zu sorgen.
In den ersten Lebensjahren ist der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen im Verstehen von Zahlen und logischem Denken kaum vorhanden. Forschungen zeigen, dass Kleinkinder unabhängig vom Geschlecht eine sehr ähnliche Auffassung von Mengen, Zahlen und Grundprinzipien der Mathematik besitzen. Dies belegt, dass die biologischen Voraussetzungen für mathematisches Verständnis bei beiden Geschlechtern vergleichbar sind. Trotzdem beginnt ab dem Schulstart ein Wandel: Innerhalb des ersten Schuljahres entwickelt sich ein messbarer Leistungsunterschied zugunsten der Jungen. Die untersucht französische Studie, die von Forschern um Pauline Martinot geleitet wurde, basiert auf umfangreichen Datensätzen, die schulische Leistungstests von fast drei Millionen Kindern umfassen.
Die Forscher nutzten diese Daten, um den Zeitpunkt zu identifizieren, an dem im Durchschnitt das Leistungsgefälle erstmals statistisch signifikant wird. Das Ergebnis: Bereits nach wenigen Monaten in der Schule schneiden Jungen besser in Mathe-Tests ab als Mädchen. Dabei handelt es sich nicht um marginale Unterschiede, sondern um klare Tendenzen, die sich im Verlauf der weiteren Schuljahre verstärken. Dieser frühe Zeitpunkt überrascht viele Experten, da bislang angenommen wurde, dass sich Geschlechterunterschiede homogener und erst später in der Schullaufbahn entwickeln. Die Studie beleuchtet damit die Bedeutung von Schule, Lehrmethoden und sozialen Einflüssen in dieser sensiblen Entwicklungsphase.
Denn der schulische Kontext scheint maßgeblich zu beeinflussen, wie Kinder mathematische Fähigkeiten entwickeln und wie ihr Selbstvertrauen in diesem Fach aufgebaut wird. Ein wichtiger Aspekt sind dabei geschlechtsspezifische Erwartungen und Rollenbilder, die Kinder und ihre Umwelt prägen. Bereits im Vorschulalter nehmen Kinder gesellschaftliche Stereotype wahr, die Mädchen oft weniger mathematisches Können zuschreiben. Diese Vorstellungen können sich in subtilen Formen in der Schule manifestieren – etwa durch die Art der Aufgaben, die gezielte Förderung oder die Rückmeldungen von Lehrkräften. Mädchen könnten dadurch internalisieren, dass Mathematik weniger ihrer Stärke entspricht, was ihr Engagement, ihr Selbstbewusstsein und letztlich ihre Leistung negativ beeinflusst.
Darüber hinaus spielt auch die Wahrnehmung der Eltern und der Bezugspersonen eine wichtige Rolle. So belegen Studien, dass Eltern bei Jungen häufiger mathematische Talente fördern und Mädchen seltener zu mathematischen Aktivitäten ermutigen. Diese scheinbar harmlosen Unterschiede wirken kumulativ und können die beginnende Leistungslücke verstärken. Die französische Studie zeigt, wie wichtig es ist, solche Einflussfaktoren zu verstehen und anzugehen, um die Entwicklung von Kindern nicht durch vorgefasste Meinungen zu beeinträchtigen. Ein weiterer Faktor, der zur Entstehung des Geschlechtergefälles beiträgt, sind die Lehrmethoden und das Lernumfeld.
Klassische Unterrichtsansätze in Mathematik orientieren sich häufig an einem Leistungsmodell, dass Wettbewerb und Schnelligkeit betont. Untersuchungen legen nahe, dass Mädchen besonders in frühen Jahren von kooperativen, auf Verständnis und Anwendung ausgelegten Methoden profitieren. Werden diese Methoden konsequenter angewandt, könnte dies verhindern, dass Mädchen frühzeitig frustriert werden und sich von mathematischen Inhalten distanzieren. Die Folgen der frühen Leistungsunterschiede in Mathematik sind weitreichend. Der Leistungsnachteil in der ersten Klasse wirkt sich im weiteren Verlauf der Schullaufbahn aus, indem Mädchen seltener ambitionierte mathematisch-naturwissenschaftliche Kurse wählen und in weiterführenden Prüfungen zurückfallen.
Später führt dies dazu, dass deutlich weniger Frauen technische Berufe ergreifen oder im Studium und Beruf in diesen Bereichen vertreten sind. Somit wirkt sich das frühe Gefälle direkt auf die berufliche Gleichstellung und die Teilhabe von Frauen an zukunftsträchtigen Branchen aus. Die Erkenntnisse der Studie sind daher auch für Bildungspolitik und Schulen von großer Bedeutung. Um den Gender Gap in Mathematik effektiv zu schließen, müssen frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden – idealerweise bereits im Kindergarten und der ersten Schulstufe. Pädagogische Konzepte sollten darauf abzielen, das Interesse und Selbstbewusstsein von Mädchen in Mathematik gezielt zu fördern und stereotype Rollenbilder zu hinterfragen.
Lehrkräfte sollten mit entsprechenden Trainings ausgestattet werden, um Gleichbehandlung und individuelle Förderung sicherzustellen. Zusätzlich empfiehlt die Forschung, Eltern besser zu informieren, um deren Rolle bei der Förderung mathematischer Kompetenzen bei Mädchen bewusst zu machen. Kulturelle Veränderungen im Umgang mit Geschlechterrollen im Bildungskontext tragen dazu bei, dass Mädchen freier lernen und motiviert bleiben. Auch das Angebot von außerschulischen Programmen und Mentoring kann Mädchen dabei helfen, frühe Rückstände aufzuholen und ihr Potenzial zu entfalten. Insgesamt zeigt die französische Studie eindrucksvoll, dass der mathematische Leistungsunterschied kein naturgegebenes Phänomen ist, sondern maßgeblich durch soziale und bildungsbezogene Faktoren geprägt wird.
Die präzise Bestimmung des kritischen Zeitpunkts – das erste Schuljahr – erlaubt eine fokussierte Intervention genau in der Phase, in der die Weichen gestellt werden. Das Ziel muss sein, gleiche Voraussetzungen zu schaffen und Mädchen zu ermutigen, sich ohne Hemmungen und Vorurteile mit mathematischen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Die Herausforderung besteht darin, bestehende Strukturen zu hinterfragen und eine inklusive Bildungskultur zu fördern, in der alle Kinder unabhängig von Geschlecht ihr Potenzial bestmöglich entfalten können. Dabei spielt nicht nur der Unterricht eine Rolle, sondern das gesamte Umfeld aus Schule, Familie und Gesellschaft. Nur so lassen sich langfristig die festgestellten Ungleichheiten beseitigen und die Grundlage für eine gerechtere Teilhabe in Bildung und Beruf legen.
Die Ergebnisse der Studie laden dazu ein, das Thema Geschlechtergerechtigkeit im Bereich Mathematik neu zu denken und innovativ anzugehen, um Mädchen von Anfang an stärker zu unterstützen.